Vancouver — Banff, 8. Sept. 1893

Da der Zug, welcher uns auf der Kanadischen Pazifik-Bahn durch die Rocky Mountains führen sollte, erst gegen 11 Uhr vormittags abging, begab ich mich noch rasch zu zwei Fellhändlern, die auch ausgestopfte Tiere feilhielten; es geschah dies weniger in der Absicht, Erwerbungen zu machen, als um die Fauna Nordkanadas, wenn auch nur flüchtig, kennen zu lernen. Wir sahen hier mächtige Seelöwen von der Insel Vancouver, Wapiti-Geweihe und Häupter, Büffelhörner, Mule-Hirsche, deren Haupt mit den hängenden Lauschern jenem eines Maultieres ähneln soll, Black -tails oder Schwarzschwanzhirsche, — die beiden letztgenannten Arten ausgezeichnet durch kurze, sehr starke und geperlte Geweihe, deren zahlreiche Enden nach oben und nach vorne gestellt sind — Bergschafe und weiße Bergziegen; an Flugwild waren verschiedene Polartaucher und nordische Eisenten, Gänse und die weißköpfigen Seeadler vertreten.

Der eine der beiden Händler, ein Deutscher namens Zimmer, ist ein Original; er nennt sich Indianer-Doktor und führt in seinen Annoncen den Titel Professor. Dessen ärztliche Tätigkeit beschränkt sich allerdings darauf, dass er den Indianern die unglaublichsten Arzneien und Mixturen gegen Felle in Tausch gibt; diese sind zumeist nicht gegerbt und in einem recht mangelhaften Zustand. Der Verkaufsladen bietet den Anblick ärgster Unordnung; die Felle liegen eingeölt umher, dazwischen finden sich Arzneien und heilkräftige Kräuter; ein Stich, Kaiser Wilhelm in Lebensgröße darstellend, prangt über einem Haufen von Mammutknochen und Wapiti-Stangen; einige dickleibige Spinnen und Skorpione in Spiritus gruppieren sich um eine preußische Pickelhaube; verschiedene Köter und Kaninchen tummeln sich in allen Räumen. Schließlich ließ ich mich doch zu Käufen verleiten und wurde mit dem alten Mann, der auch schöne Felle von Grizzly-Bären, Seeottern und Bergziegen besaß, handelseins, worauf er zum Schluss noch eine gebleichte Wapiti-Stange ergriff und zu uns gewendet sagte: „Wer die Durchlaucht ist, dem mache ich dies zum Präsent“.

Mit dem nur einmal des Tages verkehrenden Personenzug der Canadian Pacific Railway verließen wir Vancouver, um eine der interessantesten Bahnstrecken der Erde kennen zu lernen. Die genannte Bahn führt quer durch ganz Kanada von Vancouver bis Montreal und bildet die rascheste Verbindung zwischen dem Pazifischen und dem Atlantischen Ozean, zunächst die schönsten Teile Nordamerikas, nämlich die berühmten Rocky Mountains, die amerikanische Schweiz durchziehend, ehe sie in die schier unermesslichen Prairien hinabsteigt; dann führt sie nördlich der großen Seen hin und erreicht schließlich ihr östlichstes Endziel Montreal; die Länge dieser Bahn samt den Nebenlinien beträgt 4677 km.

Die Regierung überließ der Gesellschaft 1140 km fertiger Eisenbahnlinien im Werte von 33 Millionen Dollars unentgeltlich und übergab ihr behufs Ausbaues dieser ungeheueren Strecken 25 Millionen Dollars bar, sowie 10.116 km2 Ländereien, welche für immer von allen Steuern und Abgaben befreit sind; im Jahre 1884 wurden der Gesellschaft neuerdings 22,5 Millionen Dollars bewilligt. Die Gesamtkosten der Canadian Pacific-Bahn betrugen 250 Millionen Dollars. 1884 wurde von Osten her der Gipfel des Felsengebirges im. Kicking Horse-Pass erreicht und im darauffolgenden Jahre die Verbindung mit der von Vancouver aus gebauten Strecke bewirkt.
Welch enorme Schwierigkeiten haben sich diesem kühnen Unternehmen entgegengestellt! Die hohen Bergketten mit ihren steilen Abhängen, den Lawinen und Felsstürzen, die zahlreichen Flüsse und Schluchten und nicht zum wenigsten die klimatischen Verhältnisse schienen dem Vordringen der kühnen Ingenieure halt gebieten zu wollen. Technische Wunder mussten in Gebieten geschaffen werden, in denen weit und breit kein menschliches Wesen hauste, außer einigen nomadisierenden, wilden Indianerstämmen, und die tracierenden Söhne des 19. Jahrhunderts waren in einigen Gebieten die ersten Weißen, deren Fuß die Täler und Berge betrat, welche nun der Schauplatz eines Triumphes moderner Technik werden sollten. Der Bau wurde nur dadurch erleichtert, dass das Material nicht schwierig zu beschaffen und dessen Transport unschwer zu bewerkstelligen war; denn die mächtigen Zedern lieferten vorzügliches Holz für Schwellen, Wasser und Stein fehlte nirgends; hingegen war die Arbeitskraft äußerst kostspielig, weil nur mit Mühe erhältlich, und der Kampf mit der Natur ein beständiger.

Unser Train besteht aus einer langen Reihe von Schlafwagen, welche mit Sitzen versehen sind, durch deren Umklappen nachtsüber Betten hergestellt werden, die zwar etwas kurz, aber im allgemeinen ganz gut sind; ein Mittelgang führt durch alle Waggons, so dass man hier dem ganzen Train entlang frei zirkulieren kann. Da der Restaurationswagen seines Gewichtes wegen auf den steilsten Strecken des Felsengebirges nicht mitgeführt werden kann, wird ein solcher von Zeit zu Zeit in den Zug eingeschaltet. Der Observation Car ermöglicht. die Naturschönheiten besser als von den Coupes aus zu genießen, so dass, wer den lästigen Kohlenstaub und die Kälte nicht scheut, sich in diesem Wagen einer prächtigen Aussicht erfreut. Eine mächtige Lokomotive mit starken Scheinwerfern und einem vorgespannten Pflug schleppt den Zug; streckenweise muss eine zweite, ja auch eine dritte Maschine nachhelfen. Wächterhäuser, Schranken und sonstige Sicherheitsvorkehrungen kennt man hier nicht, drei Stunden vor Passierung des Trains fährt ein Mann auf einer Draisine die Strecke ab, um etwaige Störungen zu erheben und zu melden; was sich eventuell noch später ereignen sollte, das bleibt der Aufmerksamkeit des Maschinenführers überlassen und — dem guten Glück.

Die sonst so trefflich eingerichteten Sleeping and Parlor Cars haben auch ihre Schattenseiten; die Fenster sind der oberhalb herabzuklappenden Betten wegen niedrig und klein, so dass man sich immer tief bücken muss, wenn man einen Blick auf die vorbeifliegende Gegend werfen will. Bei der bekannten Rücksichtslosigkeit der Yankees bringt sogar die angenehme Möglichkeit der freien Zirkulation durch alle Wagen den Nachteil mit sich, dass jedermann hin- und herläuft,
umhertollende und schreiende Kinder alles unsicher machen und ein ständiger Luftzug herrscht. Erfreulicherweise hatte mir der Bahndirektor einen eigenen Wagen beigestellt, so dass ich von alledem nichts zu leiden hatte und auch durch das sonst in Kraft bestehende Rauchverbot nicht berührt wurde. In der Regel wird nur eine Wagenklasse mitgeführt; doch sind auch sogenannte Kolonistenwaggons angehängt, welche eine Art zweiter Klasse repräsentieren.

Zunächst zieht sich das Bahngeleis längs eines langen Meeresarmes hin, der weit ins Land reicht und aus dem Lachse munter emporschnellen, während Reiher fischend am Ufer stehen und kleine Flüge Enten schnatternd aufstreichen; dann biegt die Trace in eine kleine Ebene ein, die sich als bebautes, mit Wiesen durchsetztes Land am Ufer des Fraser oder Thompson Rivers ausbreitet. Bald aber weht uns frische, stärkende Luft entgegen, und Bergland nimmt uns auf; an beiden Seiten sehen wir grünende Höhen, die noch den vollen Schmuck der Wälder tragen, und hin und wieder schimmert durch das dunkle Grün ein kleiner, stiller See oder ein Flüsschen.

Je weiter wir kommen, desto höher türmen sich die Berge, mächtige Felspartien treten hervor und die Talwände rücken näher aneinander, das Tal wird enger. Leider passieren wir bald wieder eine Zone verbrannter Bäume, deren kahle, ragende Stangen traurige Wahrzeichen der beim Bahnbau vorgenommenen sinnlosen Verwüstungen sind; die damals gelegten Brände wurden vom Winde oft weitergetragen und nahmen dann erschreckende Dimensionen an, ganze Lehnen und Kuppen ergreifend, so dass wir stundenlang durch Regionen fuhren, in denen die Wälder erstorben sind. Ab und zu hat das verheerende Element ein kleines Plätzchen verschont, welches schön grün, einer Oase in der Wüste gleich, zu uns herabsieht. Auch jetzt noch steigen an vielen Stellen Rauchsäulen auf, die Waldbränden entquellen, welche von jagenden Indianern oder anderen Waldläufern gelegt wurden. Wie viele Millionen der schönsten Bäume sind solcherart nutzlos zugrunde gegangen!

Ungefähr nach Verlauf je einer Stunde erreicht der Train ein Stationsgebäude; es sind dies eigentlich nur zur Speisung der Lokomotivkessel bestimmte Wasserstellen, in deren Nähe mit der Zeit kleine Ansiedlungen von Arbeitern oder Trappern entstanden sind. Irgend eine elende Holzbaracke mit zwei oder drei Zimmern führt stets den stolzen Namen Hotel. Zumeist ärmlich oder verkommen aussehende Gestalten stehen, die kurze Pfeife im Munde, bei den Stationen und betrachten neugierig die in den Waggons befindlichen Reisenden.

Beinahe in jeder Station verließ ich meinen Wagen, um mich an der herrlichen Gebirgsluft zu erquicken, die uns nach zahlreichen heißen, in den Tropen verbrachten Tagen wahrhaft köstlich dünkte.

Leider verfolgte uns die Ungunst des Wetters, es regnete fast den ganzen Tag und die mächtigen Spitzen der felsigen Berge waren beinahe fortwährend in Nebel und Wolken gehüllt. Wir passieren manchen Tunnel und manch enge, durch steile, besonders nahe aneinander tretende Felsen gebildete Schlucht, während unter uns der Fraser River, ein echtes Kind der Berge, in die Tiefe stürzt und, weithin rauschend, durch seine milchweiße Farbe das Schneewasser verrät. Unwillkürlich wurde ich an unsere Enns gemahnt, welche in einzelnen Strecken ganz ebenso durch das prächtige Gesäuse braust. Auf den am Ufer emporragenden Felsen und Steinen sieht man häufig Indianer hocken. die mit seltener Ruhe und Ausdauer Lachse fischen; die gefangenen Tiere werden in Streifen geschnitten und in kleinen, offenen Hütten reihenweise an Stangen aufgehängt und geräuchert. Hunderte solcher Räucherhütten mit dem schönen, roten Lachsfleisch sind längs des Flusses sichtbar.

Gegen Abend hört der Regen auf, der Nebel verzieht sich, die mächtigen Formen der Berge kommen zum Vorschein, und wir erblicken auf den Hohen den ersten Schnee. Das Gebirge nimmt mit einem Schlag einen ganz anderen Charakter an, welcher — wenn dieser Vergleich zulässig ist — an afrikanische Formen erinnert: sandige Lehnen, ohne jeden Unterwuchs und spärlich mit Kiefern bedeckt, machen einen recht trostlosen Eindruck; hohe und steile Felswände, unregelmäßig geschichtet und durchwegs gelb in gelb erscheinend, ragen auf; in den Tälern wächst nur kümmerlich ein mageres Kraut.

Bis zum Einbruch vollständiger Dunkelheit fuhren wir durch solch traurige, einförmige Landschaft.

Links

  • Ort: Glacier Park, Kanada
  • ANNO – am 08.09.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Freund Fritz“ aufführt.

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