Vancouver, 6. Sept. 1893

Vancouver trägt echt amerikanisches Gepräge, denn das jetzt von der Stadt eingenommene Areal war noch im Jahre 1885 mit dichtem Urwald bedeckt, der einer kleinen, sich rasch vergrößernden Ansiedlung weichen musste. Sechs Jahre nach Gründung der letzteren konnte das neue Gemeinwesen bereits eine Stadt genannt werden, welche derzeit 20.000 Einwohner zählt, neben der Hauptstadt Victoria die bedeutendste Stadt Britisch-Kolumbiens ist, als Endpunkt der Canadian Pacific-Bahn sowie als Ausgangspunkt der trans-ozeanischen Dampferlinien nach Japan und China stetig an Bedeutung gewinnt und im Fisch- und Holzhandel des Nordens die erste Stelle einnimmt. Die bauliche Entwicklung Vancouvers vollzog sich nach der schon oft geschilderten amerikanischen Schablone: erst Straßen, dann elektrische Beleuchtung und zum Schluss die Wohngebäude. Die letzteren, ungemein flüchtig und größtenteils nur aus Holz erbaut, scheiden sich in zwei Gruppen; sie sind entweder „praktische Gebäude“ und dann eigentlich nichts Besseres als Kasten für Aufbewahrung von Menschen und deren Besitz, oder aber „schöne Gebäude“, welche, ein Ausbund aller Geschmacklosigkeit und im Villenstil gehalten, mit ihren Türmchen, den Erkern und dem roten Anstrich jenen Häusern ähneln, die von Kindern aus dem Material der bekannten Steinbaukasten zusammengefügt werden. Diese Villen sind häufig von kleinen, nur wenige Quadratmeter umfassenden Gärtchen umgeben, in welchen der Rasen sorgfältig gepflegt und üppig grün erscheint. Städte wie Vancouver bestehen aus einem Kern von Häusern, der die Kaufläden und die öffentlichen Gebäude enthält; hat man aber diesen Kern durchquert, so haben die regelmäßigen Häuserreihen ihr Ende erreicht, da oft nur ein bis zwei Bauwerke in einer langgestreckten, mit einem hochtrabenden Namen belegten Avenue stehen. Dazwischen befindet sich verkäufliches Terrain und ragen die Wurzelstöcke niedergeschlagener sowie die Überreste verbrannter Baumriesen aus dichtem Unkraut hervor.

Ein derartiges Gemeinwesen macht einen überaus ernüchternden Eindruck, da es sofort zeigt, dass dessen Bewohner nur den Erwerb, den raschen Gewinn von Geld bezwecken, ihr Leben ausschließlich dieser Aufgabe entsprechend einrichten und des Sinnes für Schönheit oder Wohnlichkeit entbehren. Was keinen Ertrag abwirft, öffentliche Anlagen, Alleen u. dgl. m., bleibt meist weg, dafür aber durchsaust die elektrische Bahn die Straßen und schweben viele Tausende von Telegraphen- und Telephondrähten über unseren Köpfen; alles eilt dem Geschäft nach, hastet, drängt; man sieht keine heiteren Mienen, Freunde gleiten aneinander vorbei, ohne herzliche Begrüßung, da ihnen diese nur Zeitverlust bedeutet. Manchmal sind auf der Straße zweifelhafte Gestalten oder zerlumpte Indianer zu sehen, welch letztere, durch den Genuss von Feuerwasser völlig herabgekommen, in ihrer Degenerierung einen widerlichen Anblick bieten und in nichts an ihre stolzen Vorfahren, die einstigen Besitzer des Landes, erinnern.

Die Straßen in Vancouvers innerstem Stadtteil sind mit Asphalt belegt, alle übrigen mit hohem Staub bedeckt; die Trottoirs bestehen aus starken Pfosten schönsten Zedernholzes. Öffentliche Gebäude, dem landesüblichen Geschmack entsprechend, sind in kürzester Frist und in nichts weniger denn gefälliger Form erstanden, so der Gerichtshof, mehrere Schulen u. dgl. m.

Die größte Sehenswürdigkeit Vancouvers ist der Stanley-Park, eine Reserve auf einer von Meereseinschnitten umrandeten Halbinsel, welche noch einen Teil der herrlichsten alten Bäume trägt, die hier vor geldgieriger Nutzbarmachung geschützt sind.

Der Weg bis zu der langen Holzbrücke, welche den Meeresarm zwischen Vancouver und dem Park übersetzt, zeigt beiderseits die Art, in der hierzulande die prächtigen Urwälder gerodet werden. Ein schonungsloser Vernichtungskrieg wird gegen diese 500- bis 600jährigen Zedern, Thujen und Douglas-Tannen geführt, die eine Höhe von mehr als 100 m und einen Stammesumfang von 8 bis 10 m erreicht haben und nun Platz machen müssen, damit im Lauf der Zeit Terrain gewonnen werde. Das herrlichste Holz, das bei uns einen fabelhaften Wert repräsentieren würde, findet fast nur als Heizmaterial für Lokomotiven Verwendung; in den meisten Fällen wird an den Wald Feuer gelegt, da Säge wie Axt nicht rasch genug arbeiten. Es berührt recht schmerzlich, zu sehen, wie diese mächtigen Patriarchen der Wälder nutzlos zugrunde gerichtet werden und auf Tausenden von Hektaren als Reste ehemaliger schöner Bestände nur mehr verdorrte, unten angekohlte Stämme gegen Himmel ragen. Das Feuer tötet diese Riesen, die dann erst, soweit nötig, niedergeschlagen und gänzlich verbrannt werden; das Ausgraben der Wurzeln bedeutet die letzte Etappe der Urbarmachung des Bodens, worauf dann die Rodungsfläche mehrere Jahre brach liegen bleibt, bevor sie umgeackert und bebaut wird. In der ganzen Umgebung Vancouvers raucht und glimmt es, überall ist der Schlag der Axt vernehmbar, und selbst dort, wo gegenwärtig noch keine Aussicht besteht, die Kultivierung des Bodens in Angriff nehmen zu können, wird der Wald einstweilen wenigstens durch Feuer zerstört, damit das Hindernis für alle späteren Eventualitäten beseitigt sei.

Nach diesen Bildern der Verwüstung labt sich das Auge an dem prächtigen Wald des Stanley-Parkes, an den Stämmen voll urwüchsiger Kraft, die seit Jahrhunderten hier wurzeln und unter denen seinerzeit nur der Elch und der Bär wechselten, während nur selten der Tritt einer Rothaut oder der Ruf des Wapitis die tiefe Stille unterbrach. Jetzt sind überall schöne Wege angelegt und englische Aufschriften angebracht, welche die Ausübung der Jagd sowie jede Beschädigung verbieten und die Namen der verschiedenen Partien des Parkes verkünden; bleiche Ladies fahren unter den Bäumen spazieren oder arrangieren Picknicks unter deren schattigem Dach. So mancher der Baumriesen ist im Laufe der Zeit überständig geworden, sein Stamm innen gefault und die Krone abgestorben, aber noch in diesem Zustand bleibt er durch Menschenalter aufrecht stehen, durch seine gewaltigen Dimensionen imponierend. Einer dieser abgestorbenen Kolosse hat einen Umfang von 12 bis 16 m, so dass in seinem Innern 12 Personen bequem Platz finden. Wir sehen hier Zedern, Thujen, Douglas- und andere Tannen, insbesondere die schöne Balsam-Tanne (Abies balsamea) mit den an der Unterseite bläulichgrauen Nadeln sowie Fichten.

Obschon die Riesenbäume ziemlich nahe beisammen stehen und daher wenig Licht durchlassen, ist der Unterwuchs außerordentlich üppig; wir begegnen hier vorzugsweise Baum- und Strauchgattungen, die auch in Europa vorkommen, so Ahorn, Erlen, Haselnuss, Pappeln, Weiden u. a. m. Auffallend ist die mächtige Entwickelung der Himbeer- und Heidelbeersträucher, die fast kleine Bäumchen bilden, aus welchen man sogar Stöcke schneiden kann. Lange Moose und Flechten hängen malerisch an den unteren Zweigen der Bäume und an dem dichten Gewirr des Unterwuchses; belebend wirken die zahlreichen, den Park umgebenden Kanäle und Buchten, in denen man große Lachse emporschnellen sieht. Das gegenüberliegende, bergige Festland Canadas bildet den effektvollen Hintergrund des Parkes.

Da sich trotz des jetzigen Schießverbotes kein Wild mehr im Park befindet, wurde — offenbar als Ersatz hiefür — am Ausgang ein Tiergarten angelegt, in dem zwei schwarze Amerikanische Bären (Baribal, Ursus americanus), sehr schöne Seeadler mit schneeweißem Kopf und Stoß sowie ein vielgequälter Affe in ihren Zwingern hausen.

Nach diesem wirklich genussreichen Ausflug kehrte ich in die Stadt zurück, um noch durch einige Zeit dem ausgezeichneten Spiel einiger Mitglieder des Lawn Tennis Clubs zuzusehen; wie gerne ich auch am Spiele teilgenommen hätte, so fehlte mir doch angesichts der hier entfalteten Kunstfertigkeit der Mut hiezu.

Links

  • Ort: Vancouver, Kanada
  • ANNO – am 06.09.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Aida“ aufführt.

 

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