Tokio — Nikko, 20. Aug. 1893

Vor der kleinen katholischen Missionskirche, wo ich einer Messe beiwohnte, waren die Zöglinge der dortigen Ordensschwestern aufgestellt. Die Klosterfrauen tun durch die Erziehung der Kinder sehr viel Gutes; belassen ihnen aber vernünftigerweise das japanische Kostüm sowie den in Japan üblichen Gruß und sonstige traditionelle Äußerlichkeiten; die kleinen Musumes sind alle gleich adjustiert und wirklich sehr niedlich. Die Oberin, Mater Domitilla, eine würdige, alte Dame, weilt schon lange, ihrem frommen und nützlichen Beruf obliegend, in Japan.

Bei dem Besuch, den ich dem Erzbischof von Tokio, einem liebenswürdigen Franzosen machte, erfuhr ich durch ihn und einen dort anwesenden Missionär manche interessante Details über Land und Leute, bedauerlicherweise aber auch, dass die Verbreitung der christlichen Religion in Japan nicht die wünschenswerten Fortschritte macht; denn die Japaner besitzen nicht viel religiösen Sinn und sind in Glaubensangelegenheiten meist sehr apathisch.

Bis jetzt hatte sich die Zahl der Festlichkeiten so sehr gedrängt, dass ich noch nicht Gelegenheit gefunden hatte, die Kaufläden Tokios zu besuchen, und dies sollte heute, am ersten freien Tag, nachgeholt werden. Bei der Wanderung kam ich zwar durch einen großen Teil der Stadt, deren enorme Ausdehnung mir jetzt erst klar wurde, doch änderte sich der erste Eindruck, dass sie nämlich hinter den anderen besuchten japanischen Städten an Originalität zurückbleibt, nicht; allenthalben drängt sich ein Stück Europa in wenig stilvoller und unharmonischer Weise vor, und die Straßen, deren eine sogar 7 km misst, sind übermäßig lang und wirken ermüdend.

Die Läden Tokios, namentlich die Curio Shops, bieten große Mannigfaltigkeit der Gegenstände und hiedurch reiche Auswahl; man glaubt alle originellen Schätze schon entdeckt und an sich gebracht zu haben, doch findet man immer wieder neue Formen und ganz unbekannte Objekte.

Auf Bronze, Lack, Porzellan, Holz und Papier erscheinen alle die heiligen Tiere und besonders häufig der Drache, welcher ja in der japanischen Mythe, Symbolik und Kunst eine so hervorragende Rolle spielt; auch dem Staatswappen, nämlich der schematisch geformten Blüte des Chrysanthemums, Kiku, und dem Hauswappen der Mikados, welches durch die Blätter und Blüten der Paulownia imperialis, Kiri, dargestellt wird, begegnen wir häufig.

In einem der Läden wurde plötzlich eine wellenförmige Bewegung des Bodens bemerkbar, die Wände bebten, das Wasser in den Aquarien spritzte hoch auf — offenbar erlebte ich eines jener Erdbeben, welche Tokio so oft heimsuchen, und mir däuchte, dass die unterirdischen Mächte mich nicht ziehen lassen wollten, ohne mir ihre grauenhafte Macht zu zeigen, doch nur in mäßigem Grad, also gerade hinlänglich, um das Interesse zu wecken, aber nicht um verheerend zu wirken. In einem entlegenen Teil der Stadt hatte auch einer meiner Herren die Erdbewegung wahrgenommen.

Leider blieb mir keine Zeit mehr, Seidenstoffe zu erwerben, an denen Tokio, wie man sagt, so reich ist, da ich vor meiner Abreise noch einen Besuch bei dem Gesandten Baron Biegeleben in dem Tokio-Hotel abstatten wollte; dieses ist ein Gasthof ersten Ranges, welcher einem Japaner gehört und von Japanern geleitet wird, gleichwohl aber jedem Hotel in England oder in der Schweiz würdig angereiht werden kann.

Die kurze Frist, die mir in Tokio noch gewährt war, benützte ich, um ein japanisches Theater zu sehen, welches ungefähr so angelegt ist wie unsere großen Singspielhallen. Dem Eingang gegenüber liegt die große Bühne; der Zuschauerraum zerfällt in Logen, Parket und Gallerien, wovon die beiden ersteren durch halbmeterhohe Bretterwände in quadratische Felder geteilt sind, deren jedes vier bis sechs Personen Raum bietet; Bänke oder Stühle existieren nicht, alles sitzt nach Landessitte auf dem Boden. Die Insassen der Logen, ganze Familien oder Gesellschaften, richten sich dort in Anbetracht der Länge der Vorstellungen — sie dauern von Mittag bis 10 Uhr abends — häuslich ein und bringen Speise sowie Trank mit.

Das Theater fasst circa 3000 Menschen, und alle diese, ohne Unterschied des Geschlechtes, rauchen; allerorten stehen Feuerbecken mit glühenden Kohlen und werden die Zündhölzchen meist nur auf den Boden geworfen; die feuerpolizeilichen Vorschriften scheinen nicht sehr streng zu sein, was doch der Fall sein sollte in Anbetracht des Umstandes, dass das Gebäude nur aus Holz, Stroh und Papier errichtet ist. An Stelle von Mandelmilch, Limonade und ähnlichen Erfrischungen, die bei uns üblich sind, werden hier Reis, Früchte und Sake feilgeboten. Das fortwährende Rauschen der eifrig bewegten Fächer, Kindergeschrei und das Ausklopfen der Pfeifen verursacht andauernden und abwechslungsreichen Lärm, welcher den Kunstgenuss einigermaßen beeinträchtigt.

Die ziemlich geräumige Bühne ist sehr primitiv für den Szenenwechsel eingerichtet, indem dieser nur durch Drehung einer Scheibe erfolgt, welche die verschiedenen Dekorationen trägt. Das aus wenigen Musikern bestehende Orchester befindet sich in der Höhe des ersten Stockwerkes neben der Bühne in einem käfigartigen Raum, aus welchem ab und zu unmelodische Töne an unser Ohr dringen. Rechts und links vom Parket und über die ganze Länge desselben gezogen, führen zwei Bretterstege, Blumenpfade genannt, zur Bühne; diese bieten für den An- und Abmarsch von Gruppen Bewaffneter sowie für Aufzüge Raum, dienen aber auch überhaupt für die Annäherung der Schauspieler, die schon vom Brettersteg aus zu agieren und zu sprechen beginnen. Während der langen Zwischenpausen begibt sich der elegante Teil des Publikums in die umliegenden Teehäuser, um erst bei Fortsetzung des Schauspieles in das Theater zurückzukehren.

Die Vorwürfe der im japanischen Theater zur Aufführung gelangenden Stücke sind zumeist der vaterländischen Geschichte entnommen, welche in ihren fortwährenden Daimio- Kriegen unerschöpflichen Stoff liefert; hitzige Kämpfe, Mord, Totschlag und Harakiri, das jetzt außer Übung gekommen ist, bilden meist den Höhepunkt der dramatischen Entwicklung; doch fehlt es auch nicht an Darstellungen aus dem Volksleben und an Sittenstücken, wenn man diesen Ausdruck anwenden darf. Ist ein Stück gar zu lang oder zu tragisch im Ausgang, so werden, wie man mir sagte, beliebige Kürzungen vorgenommen und einzelne Akte aus anderen Bühnenwerken eingeschoben. Als Schauspieler treten ausschließlich Männer auf, die es jedoch verstehen, weibliche Partien in Stimme, Haltung, Gebärde und Kleidung vortrefflich wiederzugeben. Dass wir von der Handlung des Stückes, welches eben aufgeführt wurde, nicht viel verstanden, brauche ich nicht erst besonders hervorzuheben; dasselbe gehörte der Kategorie der Eifersuchtsdramen an und gipfelte, nach den Gesten und dem Mienenspiel der Akteure zu schließen, in dem heftigen Zerwürfnisse eines Liebespaares. Offenbar gestaltete sich der Verlauf überaus traurig, weil die Zuhörerschaft sichtlich ergriffen war, namentlich der weibliche Teil derselben in Tränen schwamm und wir mitunter lautes Schluchzen vernahmen. Bald aber mussten wir uns von dem Schauspiel losreißen, um nach dem ziemlich entfernten Ujeno-Bahnhof zu fahren, wo sich die kaiserlichen Prinzen und die Minister eingefunden hatten, von mir Abschied zu nehmen.

Die Bahn zieht in nördlicher Richtung, gutgepflegtes Land durchsetzend, bis Utsunomija, um von hier aus nordwestwärts gewendet den dem Japaner heiligen Boden von Nikko zu erreichen. Von den Ufern des Tone-gawas an bis knapp vor Nikko reicht eine Allee aus Cryptomerien, welche wohl ohnegleichen dasteht und in dem Dunkel der Nacht, schattenhaft umrissen, einen großartigen Eindruck macht. Ein frommer Mann, zu arm, um zu den Heiligtümern in Nikko eine Bronzelaterne zu stiften, soll diese Allee gepflanzt haben. Wo wir heute auf einer Schienenspur flüchtig dahinrollten, zog unter den Tokugawa-Schogunen der Reiheischi auf der nach ihm benannten Straße dahin, der Abgesandte des Mikados, welcher Gaben im Mausoleum Ijejasus zu Nikko darzubringen hatte.

Um 11 Uhr nachts waren wir in Nikko angelangt, wo ungeachtet der vorgerückten Stunde Neugierige in großer Zahl den schier endlosen Zug von Dschinrickschas anstaunten, welcher sich einer Schlange gleich vom Bahnhof nach dem über 2 km entfernten Nikko-Hotel bewegte, das in der Talenge außerhalb der Tempelstadt, nahe einem Tempelhain liegt und uns treffliche Aufnahme bereitete.

Links

  • Ort: Nikko, Japan
  • ANNO – am 20.08.1893 in Östereichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater als Ersatz ein Ballet und „Wiener Walzer“ aufführt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Solve : *
2 × 25 =


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.