Der Morgen brachte uns eine Fahrt durch trostlose Gegend. in der kahle, mit gelbem Gras bedeckte Hügel und im Hintergrund vom Neuschnee erglänzende Berge mit spärlichem Baumwuchs aufragen. Wir sahen nur wenige Farmen, dafür häufiger Indianer, deren in einer Station ein ganzer Trupp geschliffene Büffel- und Ochsenhörner zum Kauf anbot. Männer und Weiber hatten das Gesicht rot oder chromgelb tätowiert, das Haar in Zöpfe geflochten und in den Ohren Ringe aus Muschelschalen; die Kleidung der Männer erschien als ein Gemisch der nationalen und der europäischen Tracht, und es entbehrte nicht der Komik, einen Sohn der Wildnis vor sich zu sehen, der zwar Mokassins und originale Lederhosen trug, aber den Oberleib in ein abgetragenes, schwarzes Jacket gehüllt und das Haupt statt durch Adlerfedern mit einem eingetriebenen Zylinder geschmückt hatte; die Weiber waren in bunte Kotzen gehüllt und blickten starr auf die dem Zug entsteigenden Reisenden. Welch ein Unterschied zwischen diesen von der Kultur angekränkelten Indianern und deren wilden, freien, stolzen Vorfahren, die noch vor nicht allzu langer Zeit die Herren des Landes waren!
Nachmittags überschritten wir zum zweiten Mal den Hauptrücken der Rocky Mountains, diesmal im Mullan-Pass, mittels eines in 1691 m Seehöhe liegenden, über einen Kilometer langen Tunnels; der Scheitel des Gebirgskammes erhebt sich bis zu 1789 m. Der Kontrast zwischen der West- und der Ostseite dieser Wasserscheide ist ein auffallender; die gelben Lehnen der Westseite werden durch eine zerrissene Felsenlandschaft ersetzt, in der sich die Bahn mittels bedeutender Krümmungen und scharfer Kurven dahinwindet; die Felsen nehmen nicht selten phantastische Gestaltung an; die Vegetation lässt im Westen wie im Osten gleich viel zu wünschen übrig.
Kurze Zeit nachher rast der Zug über eine Art Hochprairie, ein sehr breites, flaches Tal; eine Bergkette, auf deren Gipfel hoher Schnee liegt, steigt schroff empor. Halbwilde Viehherden treiben sich auf der Prairie umher und häufig muss der Lokomotivführer den langgezogenen Ton der Dampfpfeife erschallen lassen, um die Tiere von den Schienen zu verjagen; zahlreiche Skelette verendeter Stücke bleichen zu beiden Seiten der Trace. Da die Gegend sehr erzreich, insbesondere goldhaltig ist, sahen wir zahlreiche Minen und Bergwerke, um die sich Ansiedlungen, Städte genannt, gruppieren, deren bedeutendste Helena ist, die Hauptstadt von Montana. Rings um die an Spokane erinnernde Ortschaft finden sich ergiebige Gold- und Silberlager in Ouarzgestein, nebstbei auch Kupfer-, Eisen- und Bleierze. Mit bedeutender, auf amerikanischen Bahnen fast zur Regel erhobenen Verspätung kamen wir in Livingston an, wo wir im Waggon übernachteten, da auf den kleineren Strecken leider keine Nachtzüge verkehren, so dass man gezwungen ist, die Nacht in einem Hotel oder im Schlafwagen zu verbringen.
Links
- Ort: Livingston, Montana, Vereinigte Staaten
- ANNO – am 20.09.1893 in Österreichs Presse.
- Das k.u.k. Hof-Burgtheater spielt Schillers „Die Räuber“, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Carmen“ aufführt.