Als sollte uns die Erinnerung an die Jagdexpedition in die Gold Range besonders eingeprägt und der Abschied von den Rocky Mountains recht schwer gemacht werden, genossen wir heute eines selten schönen Tages. Tiefblauer Himmel wölbte sich wolkenlos über uns, die Sonne sandte erwärmende Strahlen herab, die köstliche, frische Bergluft war von balsamischem Fichten- und Tannengeruch durchzogen, zahlreiche Schmetterlinge gaukelten umher, die letzten Tage ihres Lebens genießend, und buntschillernde Käfer krochen auf der Rinde gestürzter Bäume.
Bis Mittag blieben wir noch im Lager, machten verschiedene photographische Aufnahmen, saßen dann auf, und weiter gings gegen Penticton; es war ziemlich heiß, der Weg herzlich schlecht, und unsere sonst wilden, doch jetzt schon ermüdeten Mustangs konnten nur mehr unter beständiger Nachhilfe von Sporen und Peitsche weitergebracht werden.
Im Indianerdorf bat ich Charley, mir eines der Häuser zu zeigen. und wurde alsbald von ihm in sein eigenes Heim geführt, wo mich seine äußerst korpulente Ehehälfte empfing, die in eine Art Neglige gehüllt war und in einer Leinwanddüte ein Kind auf dem Rücken trug. Wie staunte ich aber, als ich beim Betreten des Blockhauses statt der erwarteten Waffen, Häute und Scalps erschlagener Feinde eine Nähmaschine sowie eine Kaffeemühle und die Wände mit Ausschnitten aus illustrierten Zeitungen beklebt fand, so dass ich an den schönen Erinnerungen irre zu werden begann, die ich auf Grund der Lektüre berühmter Geschichten dem Volk der Indianer bewahrt habe. Die Ehe Charleys scheint sehr gesegnet zu sein; denn in dem kleinen Raum weinten, schrieen und kugelten sich Kinder aller Altersstufen, während die älteste Tochter an der Nähmaschine hantierte; die guten Leute schätzen die Reinlichkeit offenbar sehr gering, weshalb ich nicht wagte, die mein Interesse weckenden Gegenstände zu berühren, und die Stube, der herrschenden Stickluft weichend, bald verließ. Vor dem Haus hatten sich inzwischen einige alte Weiber, wahre Megären, versammelt, welche sich über unseren Besuch hoch erfreut zeigten, mit den Fingern auf uns wiesen und sich lebhaft in ihrer gutturalen Sprache unterhielten.
Der katholische Missionär des Ortes, ein alter Franzose, der schon seit 25 Jahren in diesen Gegenden weilt, kam zu Pferd angesprengt und spendete nicht nur seinen Pfarrkindern alles Lob, sondern wusste auch allerlei Interessantes von den Indianern zu erzählen, hieran manche Bemerkung über sein Leben und sein neues Vaterland knüpfend. Er rühmte insbesondere die Intelligenz der Rothäute, die ich allerdings nicht bezweifle, ohne im übrigen einen guten Eindruck von ihnen empfangen zu haben, obschon oder weil ich sie mit forschendem Auge betrachtete.
Die Indianer Nordamerikas, die Urbewohner des Landes, noch im letzten Jahrhundert zahlreich und mächtig, sind in der gegenwärtigen Epoche in unaufhaltsamem Rückgang begriffen, da das Gedeihen der Rothäute als eines Jäger-, Fischer- und Kriegervolkes eben mit dem raschen Vordringen moderner Kultur unvereinbar zu sein scheint. Zur Waffenruhe gezwungen und aus seinen einst so wildreichen Jagdgründen in bestimmte Bezirke, Reservations, gedrängt, verfällt dieses Volk, für dessen Blüte die Ungebundenheit offenbar eine wesentliche Voraussetzung ist, immer mehr und zwar um so schneller, als es weit leichter den Übeln der Zivilisation als deren Segnungen zugänglich ist. Krankheiten aller Art, Trunksucht und Korruption haben in der modernen Periode Nordamerikas unter den Rothäuten rasch Eingang und Verbreitung gefunden; dagegen ist es nur in beschränktem Maße gelungen, die Indianer zu zivilisieren, sie zum Christentum zu bekehren, sesshaft zu machen und in tüchtige Ackerbauer umzuwandeln.
In Kanada ist übrigens die Lage der Indianer eine weit günstigere, der Fortschritt in ihrer Gesittung ein viel bedeutenderer als in den Vereinigten Staaten. Dies gelangt nicht nur in den numerischen, moralischen und materiellen Verhältnissen der Indianer, sondern auch in der Gesinnung zum Ausdruck, welche sie den Herren der Gebiete gegenüber an den Tag legen. Während in Kanada Aufstände indianischer Stämme, wie jener der „Schwarzfüße“ im Jahre 1886, wider die Weißen nur vereinzelt vorgekommen sind, haben die Vereinigten Staaten in den letzten Dezennien fast stets im kleinen Krieg mit den Rothäuten gelebt; hier flackert auch jetzt noch im Nordosten und in den Rocky Mountains das Glühfeuer der Empörung zeitweilig wieder auf.
Wie in der Union, so sind auch in Kanada die Indianer auf Reservationen beschränkt; während aber die 423 Reservationen Kanadas vorwiegend ertragsfähiges und den Indianern zusagendes Land darstellen, sind die Indianergebiete innerhalb der Union zumeist wertlose oder doch ärmliche und ungastliche Ländereien, deren Umfang überdies immer wieder eingeschränkt wird.
Der Hauptsumme nach sind, wie bemerkt, die Indianer in Nordamerika in stetem Rückgange begriffen. Erwähnenswert ist insbesondere das Schwinden jener Stämme, welche uns Europäern durch Geschichte und Roman nahegerückt sind. Denn wer dächte, wenn er von den englisch-französischen Kriegen in Nordamerika während der Jahre 1744 bis 1748 und 1754 bis 1763 liest, nicht an die Huronen, an die Irokesen, Mohawks. Tuscarora u. s. w.? Die berühmten „sechs Nationen“ sind nun heute so zusammengeschmolzen, dass im Jahre 1892 in der Union nur mehr 13.621, in Kanada gar nur mehr 8508 Indianer lebten, welche Abkömmlinge jener Stämme sind, deren Namen uns durch die Kämpfe Chingachgooks und Unkas‘, der letzten Mohikaner, als Freunde oder als Feinde des unsterblichen Nathanael Bumppo, des Pfadfinders und Lederstrumpfes geläufig sind.
Der Dampfer „Aberdeen“ langte gegen 5 Uhr an dem hölzernen Steg in Penticton an, worauf ich mich sogleich an Bord und recht bald zur Ruhe begab.
Links
- Ort: Penticton, Kanada
- ANNO – am 15.09.1893 in Österreichs Presse.
- Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Der Prophet“ aufführt.