Schimonoseki — Mija-schima, 6. Aug. 1893

Vor der Einschiffung auf dem „Jajejama“ fand ich Gelegenheit, den japanischen Ministerpräsidenten, den vielgenannten Grafen Ito Hirobumi, kennen zu lernen und ihm gleichzeitig meine lebhafteste Teilnahme auszudrücken; denn er war nachts angekommen, um seinen Sohn zu besuchen, der an den Folgen eines schweren Sturzes darniederlag. Des Grafen Sohn war mir gleichfalls zugeteilt worden, hatte jedoch, als er uns entgegenfuhr, das Unglück gehabt, von einer Fallreeptreppe herabzustürzen und hiebei so bedeutende innere Beschädigungen zu erleiden, dass auch unser Arzt, welcher den Verletzten untersuchte, nur wenig Aussicht auf Wiederherstellung eröffnete.

Unter dem donnernden Salut sämtlicher Kriegsschiffe nahmen wir Abschied von Schimonoseki, während sich unser langer Kreuzer herumdrehte, um ostwärts gewendet in die vielgepriesene Inland-See zu steuern. Das japanische Binnenmeer, Seto-no-utschi-umi, das heißt das Meer zwischen den Straßen, wird im Süden von den Inseln Kiuschiu und Schikoku, im Norden aber von der Hauptinsel Hondo eingeschlossen und steht mit dem Ozean durch die Van der Capellen-, die Bungo- und die Linschoten-Straße in Verbindung; Flut und Ebbe wechseln in der Inland-See wie im Ozean ab, doch ist die Tiefe dieses Binnenmeeres eine geringe und beträgt häutig kaum 20 Faden. Von Schimonoseki im Westen, bis Osaka im Osten sich hinziehend, ist das Binnenmeer namentlich in seinem mittleren Teil von Inseln vulkanischen Ursprungs bedeckt, deren Zahl von japanischen Quellen auf mehrere Tausend angegeben wird.

Unmittelbar nachdem wir aus der schmalen Passage von Schimonoseki herausgefahren waren, verließen uns die Küsten der Inseln Kiuschiu und Hondo, welche hier scharf zurücktreten und den nach der Provinz Suwo benannten Teil des Binnenmeeres in weitem Bogen umfassen.

Der heutige Tag war ganz darnach angetan, uns alles im günstigsten Licht erscheinen zu lassen; denn wolkenlos lachte der Himmel in freundlichem Blau auf uns herab, und eine frische Brise brachte angenehme Kühlung. Die leicht bewegte See war durch zahllose Fahrzeuge belebt, welche, in den abenteuerlichsten Formen gebaut und mit den absonderlichsten Segeln versehen, auf den Fischfang ausgezogen waren, der eine bedeutende Rolle in der Ernährung von Japans Bevölkerung spielt, da Fische die hauptsächlichste Fleischnahrung darstellen. Nach dem hier geltenden Reglement haben Dampfschiffe den sich umhertummelnden Booten nicht auszuweichen, welch letztere vielmehr gehalten sind, den Dampfern freie Fahrt zu ermöglichen; doch geschieht dies mit einer gewissen Sorglosigkeit, so dass wir trotz häufiger Anwendung der Dampfpfeife nicht selten in bedenkliche Nähe einzelner Dschunken gerieten, bis schließlich eine derselben gerammt wurde, jedoch krachend an unserer Bordwand weiterglitt und mit Havarien am Steuer und an den Masten davonkam — eine Kollision, welche ohne Eindruck auf unseren Kommandanten blieb, der lächelnd weiterfuhr, als ob nichts vorgefallen wäre.

Nach etwa drei Stunden wechselten wir Kurs und steuerten nach Nordosten, um auf dieser Route in ein wahres Labyrinth von Inseln zu geraten. Die Fahrt durch dieses Gewirre von Eilanden ist wahrhaft entzückend, und ich kann aus eigener Anschauung bestätigen, dass die begeisterten, in Reiseberichten gegebenen Schilderungen der Naturschönheiten der Inland-See nicht übertrieben sind. Die größeren Inseln machen mit ihren mächtigen Bergen, die teilweise waldlos sind, aber gleichwohl einen äußerst wirksamen Hintergrund bilden, imposanten Eindruck; von den kleineren Eilanden, die überaus phantastische Formen zeigen, bestehen nicht wenige nur aus einem gigantischen Felsblocke, welcher dem Meer entstrebt, andere sind mit Hügeln und spitzen Kegeln bedeckt. Beinahe alle größeren Inseln sind besiedelt; an den Küsten reiht sich Ortschaft an Ortschaft, ein Fischerdorf an das andere; allenthalben tritt zutage, dass die Bewohner dem Landbau oder dem Fischfang obliegen; an den Abhängen der Hügel ziehen sich wohlbebaute Felder empor, und auf der leicht gekräuselten Oberfläche der See tanzen ganze Flotten von Booten. Auch eine kühn fliegende Einbildungskraft dürfte Mühe haben, eine landschaftliche Szenerie zu dichten, welche an Mannigfaltigkeit und an Bewegtheit, an Großartigkeit des Eindruckes und an Intimität des Reizes jene übertrifft, die sich hier vor dem Blick entrollt.

Obschon unsere Aufmerksamkeit vollständig in Anspruch genommen war, ließ der Kommandant des „Jajejama“ exerzieren, was mit den 12 cm Armstrong-Geschützen trotz der langen, schier endlos scheinenden japanischen Kommandos recht präzis und flott von Statten ging. Von Zeit zu Zeit spielte die Bordkapelle einige Musikstücke, so die unvermeidliche Ouverture aus „Tell“, ein Potpourri aus „Mignon“ und verschiedene heimatliche Tanzweisen. Bei aller Anerkennung, welche ich bereit bin, den Japanern nach dem, was ich bisher gesehen und gehört, zu zollen, kann ich nicht verschweigen, dass ich mich schon größerer Genüsse erfreut habe als des uns bereiteten Ohrenschmauses; einzelne der zum Vortrag gebrachten Piecen waren in der hier üblichen Auffassung nicht recht zu erkennen, und auch die Programme konnten auf Verlässlichkeit wenig Anspruch erheben, da sie beispielsweise die Oper „Carmen“ als Werk unseres Walzerkönigs Strauß bezeichneten.

Als wir den Kurs abermals wechselten, um nordwärts zu steuern, lag die bergige Küste der Provinz Suwo nur wenige Meilen backbord; diese Küste und später jene der Provinz Aki entlang dampften wir weiter, bis wir die Insel Mija sichteten — unser heutiges Reiseziel. Nachdem wir noch eine sehr enge Passage mit möglichster Gefährdung einiger Fischerboote, jedoch ohne Unfall durchmessen hatten, liefen wir in die Bucht Mija-schimas ein, woselbst zwei japanische Kriegsschiffe, der Kreuzer „Tschijoda“ und die Corvette „Tenriu“, die Ankunft des „Jajejama“ donnernd begrüßten. Zu meiner nicht eben angenehmen Überraschung gewahrte ich schon aus der Ferne sowohl auf dem Land als in Booten die an ihren weißen Uniformen kenntlichen, übereifrigen Polizisten.

Mija-schima, die Tempelinsel, zeichnet sich vor anderen Eilanden dieses Archipels in vorteilhafter Weise dadurch aus, dass die bis zu 457 m aufsteigenden Höhen mit prächtigem, geschlossenem Walde bedeckt sind; der Boden der Insel ist eben heilig, weshalb die Hand des Menschen sich nicht an die Bäume wagen darf und auch Wild sich hier ungestörten Daseins erfreut, so Hirsche, welche ganz zahm sind, mitten unter den Fußgängern umherlaufen und aus der Hand der Vorübergehenden fressen. Der religiösen Weihe ungeachtet, welche die Insel auszeichnet, bildet diese einen im Sommer viel besuchten Ausflugsort; denn reizende, gegen die See zu sich öffnende Täler, von zahlreichen angenehmen Pfaden durchzogen, eine nie zu hoch ansteigende Temperatur sowie erquickende See- und Süßwasserbäder bedeuten ebensoviele anziehende Momente. Die Insel ist von etwa 3003 Menschen — Priestern, Gastwirten, Fischern und Bilderschnitzern — bewohnt, deren Behausungen in reizender Verborgenheit entlang der Bucht zu Füßen eines grünenden Hügels liegen, von dem uns prächtige Nadelhölzer grüßen. Einen interessanten Gegensatz hiezu bildet der gegenüberliegende Küstenstrich der Provinz Aki; denn die scharf abfallenden Bergabhänge sind kahl und das lichtgefärbte, fast weiß schimmernde Gestein und Geröll tritt zutage, so dass es scheint, als seien die Berge mit Schnee bedeckt.

Auch auf Mija-schima musste ich eine Entree glorieuse feiern, eine Einführung, von welcher ich mich gerne entbunden gesehen hätte, die aber unausweichlich war, da die Japaner offenbar entscheidenden Wert darauf legten, bei jeder Gelegenheit die größte Feierlichkeit und den höchsten Pomp zu entfalten. An der Landungsbrücke standen in großer Anzahl hohe Würdenträger und Honoratioren, welche mir vorgestellt wurden und sich tief verneigten, als ich an ihnen vorbeikam. An diese schloss sich ein Spalier von Wächtern des Gesetzes, hinter denen sich eine Menge Volkes drängte, neugierig, den fremden Prinzen zu sehen, der, gefolgt von der heimatlichen und der japanischen Suite, zwischen dem Leibjäger in grüner Livree und dem Türsteher mit dem Schwert einherschritt. Ich gestattete mir jedoch eine kleine Abweichung vom Programm; denn als ich sah, dass die Wegstrecke bis zu unserer Behausung sich ziemlich lang hindehnte und deren Zurücklegung in dem Tempo des feierlichen Aufzuges bei der hohen Temperatur sowie bei dem Umstand, dass unser Pfad zwar nicht mit Rosen, wohl aber mit einer hohen Lage feinen Sandes bestreut war, nicht eben angenehm zu werden versprach, schlug ich eine Art Laufschritt an, der mich bald ans Ziel, das Gefolge jedoch zu allgemeiner Heiterkeit etwas außer Atem brachte.

Hatten schon die uns bisher auf japanischem Boden eingeräumten Quartiere unsere Bewunderung erregt, so wurden sie doch durch die landschaftliche Umrahmung, die Originalität der Anlage und die entzückenden Details der Wohnstätte weit übertroffen, welche hier für uns vorbereitet war. Der Weg hatte uns bis in eine enge Waldschlucht geführt; vielhundertjährige Bäume spenden hier angenehmen Schatten; in der Sohle der Schlucht rieselt ein kristallklares Bächlein dahin, von munter umherschwimmenden Gold- und anderen Fischchen belebt; zwischen den Bäumen ragen Felsen empor, auf welchen sich, scheinbar regellos verteilt und nur Launen des Geschmackes die Entstehung verdankend, allerliebste, kleine Häuser befinden, deren je eines für jeden von uns bestimmt ist.

An einigen Stellen seines Laufes ist das plätschernde Wässerchen zu Miniaturteichen gestaut, in deren Mitte auf Piloten sich offene Kioske mit Veranden erheben; in diesen laden Matten sowie schwellende Kissen zur Ruhe und zum Träumen bei dem Gemurmel des Baches ein. Alle die anmuthigen Bauwerke stehen mittels zierlicher Wege, Treppen, Stege und Brücken in Verbindung. Bald da, bald dort sprudelt eine Quelle zwischen dem Gesteine hervor, zischt und braust ein Springbrunnen empor, dessen Wasserstrahlen in muldenförmig ausgehöhlte Steine zurückfallen, die malerisch von allerlei Wasser- und Schlingpflanzen umrahmt und umrankt sind; allenthalben finden sich — ähnlich den Kapellen und Heiligensäulen, welche bei uns an Landwegen stehen — kleine, steinerne, mit Moos bewachsene Tempelchen, die bestimmt sind, des Abends ein Licht aufzunehmen, um auf diese Weise, ebenso wie in die Felsen gemeißelte Nischen, Beleuchtungszwecken zu dienen. Die Herrlichkeiten, welche uns hier umgeben, sind von wahren Künstlern geschaffen, deren rege Phantasie mit feiner Empfindung für die Schönheiten der Natur, mit gemütvoller Poesie gepaart ist. Unserem Erstaunen über die idyllische Waldniederlassung lauten Ausdruck gebend, eilten wir überall umher, das Zaubernest in jeglichem Detail in Augenschein zu nehmen.

Die einzelnen Behausungen wiesen bunte Mannigfaltigkeit in der Anlage und Ausführung auf, so dass wir über die reiche Gestaltungskraft der japanischen Baukünstler nicht genug staunen konnten; und doch trug jedes der kleinen Meisterwerke den einheitlichen Charakterzug der Niedlichkeit. Auch hier hatten als Baumaterial nur Holz, namentlich Bambus, Strohmatten und Papier Verwendung gefunden, allerdings nicht ohne dass die Werkleute ihr seltenes Geschick in hervorragender Weise bekundet hätten, mit den einfachsten Mitteln dem Auge wohltuende Wirkungen hervorzubringen; selbst die Ausstattung der Wohnräume war malerisch, den Gesetzen der Schönheit entsprechend. Während die decorative Kunst der stammverwandten Chinesen sich durch einen ins Bunte und Auffallende, ja zuweilen ins Schreiende
gehenden Zug charakterisiert, zeichnet sich jene der Japaner, ungeachtet aller Farbenfreudigkeit, durch künstlerisches Maßhalten, durch vollendete Harmonie und durch anheimelnde Intimität sowie durch zartes Verständnis dafür aus, das Leben mittels entsprechenden Komforts so angenehm als möglich zu gestalten. Die Grundzüge des japanischen Wesens, lebensfrohe Heiterkeit, ansprechende Sinnlichkeit und ausgeprägtes Schönheitsgefühl treten auf allen Gebieten des Volkslebens zutage und machen, in innig verwobener Wechselbeziehung mit der herrlichen Natur, jedem Fremden, der Japans Boden betritt, Land und Leute gleich sympathisch.

Nachdem ich mich von den Würdenträgern und Honoratioren, welche uns das Geleit gegeben, verabschiedet und von meinem Häuschen Besitz ergriffen hatte, begann ich die Nachbarschaft unseres Quartieres zu durchwandern.

Mija-schima ist seines berühmten Tempels wegen ein Hauptwallfahrtsort, eine Art Mariazell des südlichen Japans; wie in der Nähe unserer Gnadenkirchen gibt es auch hier im Bereiche des Tempels eine Unzahl von Kaufläden und Buden, in welchen die Pilger neben manch anderem auch Gegenstände der Erinnerung an die heilige Insel kaufen. Diese Objecte sind zumeist ganz vorzüglich geschnitzte oder bildliche Darstellungen der Niederlassung auf der Insel, des Tempels, der Hirsche u. dgl. m. und um geradezu lächerlich billige Preise erhältlich, ein Umstand, welcher wohl darthut, dass die Insel noch abseits von der großen Route der Touristen liegt und deren Bewohner durch reisende Engländer und Amerikaner noch nicht verwöhnt sind. In diesen Buden erwarb ich ganze Wagenladungen hübscher Gegenstände, insbesondere Tischchen, Vasen, allerlei Nachbildungen aus verkrüppeltem Holze, Kinderspielzeug und hundert andere Dinge.

Die Regierung hatte übrigens auch hier getrachtet, mir die Bereicherung meiner Sammlung so leicht als möglich zu machen; denn in einem Gebäude, dessen Räume sonst pädagogischen Zwecken dienen, waren Erzeugnisse der japanischen Kunstindustrie zu einer förmlichen Ausstellung arrangiert worden, welche im wesentlichen die in den Buden feilgebotenen Objekte enthielt, die aber, dem offiziellen Eingreifen entsprechend, das Dreifache der in den Läden verlangten Preise kosteten. Ich beschränkte mich daher auf die Erwerbung einer alten japanischen Rüstung nebst der dazugehörigen, durch einen martialischen Schnurrbart ausgezeichneten Fratzenmaske.

Weiterhin gelangte ich, eine steile Treppe emporklimmend, zu einer großen aus Holz erbauten, tempelartigen Halle, welche auf einem Hügel liegt und von Taiko-sama, dem Marschall und Regenten des Reiches, der seine Laufbahn als Stallbursche begonnen hatte, an der Stelle erbaut worden war, wo er im Jahre 1591 vor dem Auszug der japanischen Heere unter den Generalen Konischi Jukinaga und Kato Kijomasa zur Eroberung Koreas seine Befehle ertheilt hatte. Diese Halle, in der Taiko-sama auch große Festgelage abgehalten haben soll, ist durch zahlreiche an den Wänden hängende Votivbilder geschmückt; das Holzwerk einer unweit der Halle errichteten Pagode zeigt wie jene die ehrwürdigen Spuren des hohen Alters. Wenige Schritte oberhalb dieser Bauten und unweit eines gefallenen Kriegern zu Ehren errichteten Denkmales erfreute ich mich von einem dominierenden Punkte aus des reizenden Ausblickes auf das liebliche Mija-schima.

Das Diner nahmen wir unter den Klängen zweier Musikkapellen in einem der Teichkioske ein; in dieser uns ungewohnten Speisehalle herrschte eine äußerst wohlthuende Temperatur, so dass es nur wünschenswert wäre, wenn auch in der Heimat während der Sommerszeit ähnlich gestaltete und situierte Räumlichkeiten zu dem gleichen Zwecke verwendet würden, vorausgesetzt, dass die Gelsen dies gestatten, die auf Mija-schima das gemütliche Diner einigermaßen störten. Dem Mahl wohnte unter anderen Persönlichkeiten auch der sich eines sehr lebhaften und heiteren Temperamentes erfreuende Divisionscommandant von Hiroschima sowie ein Admiral bei, welcher aus der Hafenstadt Kure gekommen war — zwei Herren, mit welchen ich eine anregende Konversation unterhielt; die Mitteilungen des Admirals bestärkten mich in der Überzeugung, dass die Japaner auf die Ausgestaltung ihrer Kriegsmarine sorgfältig bedacht sind, ein Umstand, der nicht zum wenigsten durch die trefflichen Leistungen des kaiserlichen Seekadetten-Institutes dargetan wird, das auf der unweit Kure gelegenen Insel Eta errichtet worden ist.

Dem berühmten Tempel der Insel, einem Schinto-Heiligtum, galt ein abendlicher Besuch. Der Schintoismus und der Buddhaismus sind die beiden heidnischen Religionssysteme, welchen Japans Bevölkerung anhängt, und zwar bildet der Buddhaismus, gegenwärtig in sieben Hauptsekten gespalten und dem krassesten Götzendienst ergeben, die eigentliche Volksreligion, während die höheren Schichten der Gesellschaft jetzt zumeist der religiösen Indifferenz oder dem Atheismus verfallen sind. Neben den beiden genannten Religionen hat auch die Lehre des Konfuzius Aufnahme gefunden; sie ist zwar nicht sehr tief eingedrungen, hat aber doch auf die gebildeteren Stände und namentlich in früherer Zeit auf die Samurais großen Einfiuss ausgeübt.

Der Schintoismus bezweckt die Glückseligkeit des irdischen Lebens und geht von der Annahme aus, dass die Geister der Abgeschiedenen bei der Erreichung dieses Zieles behilflich sind, weshalb sie denn auch, wenn ein Gläubiger ihrer bedarf, durch Händeklatschen, Läuten u. dgl. gerufen werden. Charakteristisch ist für den Schintoismus oder die Kami-Lehre die göttliche Verehrung berühmter Männer neben jener einer angeblich nach Millionen zählenden Götterschar, deren Reigen von der Sonnenkönigin Amaterasu geführt wird. Der letzteren angeblicher Abstämmling, Dschimmu-Tenno (660 bis 585 v. Chr.), ist der Begründer des japanischen Reiches und Ahnherr des kaiserlichen Hauses, so dass der jeweilige Kaiser Japans als Sprosse des Himmels und daher als Gottheit verehrt wird. Dem Schintoismus sind eigentliche dogmatische und ethische Grundsätze fremd, wohl aber ein ausgebildetes Ritual und eine entwickelte Liturgie eigen. So wenig wie der Buddhaismus hat der Schintoismus sich in ursprünglicher Reinheit zu erhalten vermocht, sondern ist vielmehr in mannigfacher Beziehung von jenem beeinflusst worden.

Interessant ist, dass nach Beginn der neuen Ära im Jahre 1868 von der Regierung der Versuch gemacht wurde, den Buddhaismus zugunsten des Schintoismus zu verdrängen. Dieses Bestreben erklärt sich aus dem begreiflichen Interesse, das der Kaiser, oder, wie der übliche Titel lautet, der Mikado, an der Religion hat, welche ihn mit dem Begründer des Reiches sowie mit dem Himmel in Verbindung bringt und ganz geeignet erscheinen musste, zur Festigung der durch die großartige Reformbewegung wieder hergestellten kaiserlichen Macht beizutragen. Im Jahre 1876 wurde übrigens Religionsfreiheit proklamiert, und von diesem Grundsatze hat auch das Christentum Vorteil ziehen können; wenigstens sind bereits vor einigen Jahren römisch-katholische Bischofssitze in Tokio, Nagasaki, Kioto und in Sandani errichtet worden.
Der angeblich schon im 6. oder 7. Jahrhundert erbaute und drei Göttinnen geweihte Tempel der Insel erhielt durch Kijomori im 12. Jahrhunderte jene Gestalt, welche ihn als Bauwerk des westlichen Japans berühmt gemacht hat. Als Schinto-Heiligtum ist der Tempel, welchen die Kannuschis, die Schinto-Priester, uns zu Ehren, wenn auch spärlich beleuchtet hatten, gekennzeichnet durch die hohen galgenförmigen Portale, die Torii, welche, hier auf Piloten stehend, in die See hineingebaut sind; er umfasst ein Gewirr von Räumlichkeiten, welche die Heiligtümer bergen, und von Verbindungsgängen.

Der Eintritt in die eigentlichen Tempelräume blieb uns versagt; doch durften wir wenigstens einen Blick hineinwerfen, ohne jedoch außer Leuchtern und Bildern viel Bemerkenswertes wahrnehmen zu können. In der Mitte des Haupttempels sieht man eine Art Podium, welches für festliche Aufzüge an hohen Feiertagen bestimmt und von zwei Drachen aus Bronze, wahren Kunstwerken der Metallarbeit, flankiert ist; eigentümlich geformte, hohe Bronzevasen hatte ich schon am Tempeleingang bemerkt.

Die Priester, welche, mit weißen Seidengewändern angetan und versehen mit den eigentümlichen, an Bischofsmützen gemahnenden Kopfbedeckungen, uns das Geleit gaben, wiesen in zwei Kammern all die Gegenstände und Gerätschaften vor, die bei gottesdienstlichen Handlungen verwendet werden, und unter vielen anderen Dingen auch prachtvolle Stoffe, geeignet, den Neid mancher unserer Damen zu erwecken, ferner fratzenhafte Masken und verschiedene Schwerter, deren einige die unförmliche Länge von 4,5 m aufwiesen und offenbar nur als Schaustücke bei bestimmten Zeremonien verwendet werden.

Der Tempel auf Mija-schima zeigt in seiner prunkvollen Ausstattung deutlich die Folgen des weitgehenden buddhistischen Einflusses; denn der reine Schinto-Tempel zeichnet sich durch Einfachheit und insbesondere durch den Mangel von Metallzierat oder Lackschmuck aus. Auch sollen die Symbole beschränkt sein auf einen runden Metallspiegel als Sinnbild des göttlichen Glanzes, auf das Gohei, ein an einem Holzstäbchen befestigtes Papier, von dem angenommen wird, dass der Geist des Gottes sich darauf niederlasse, und auf einen Edelstein oder eine Kugel aus Bergkristall als Zeichen der Reinheit und Macht des Gottes.

Bemerkenswert ist die große Zahl der in einer Galerie des Tempels aufgehängten Votivbilder, welche zum Teil bedeutenden künstlerischen Wert haben und sich durch hohes Alter auszeichnen; einige derselben sind aus den Händen berühmter Meister hervorgegangen. Wir begegneten hier den denkbar mannigfaltigsten Darstellungen, da allerlei gute und böse Götter und Geister, mitunter mit greulichen Fratzen versehen, Affen, Hirsche sowie anderes Getier und in bunter Abwechslung Szenen aus dem Leben teils gemalt, teils geschnitzt, teils in eingelegter Arbeit vorgeführt sind.

Obschon die Nacht bereits ziemlich weit vorgerückt war, ließen wir uns noch, in Kimonos gehüllt, in einem der Teichkioske nieder, um, rauchend und plaudernd sowie Champagner schlürfend, im Genuss der uns umgebenden Natur zu schwelgen, deren Reize uns allen Ausrufe des lauten Bedauerns ob der programmäßigen Kürze des Aufenthaltes auf Mija-schima entlockten.

Schließlich nahmen wir noch ein kühlendes Bad in den Wellen des Baches, indem wir geradeaus von der Veranda des Kioskes in die Fluten sprangen und uns beim Schein roter Lampions darin fröhlich tummelten.

Links

  • Ort:  Mijaschima, Japan
  • ANNO – am 06.08.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Cavalleria rusticana“ aufführt.

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