Salt Lake City — Colorado Springs, 29. Sept. 1893

Ein fruchtbares Tal weist Getreide- und Obstbau, vor allem aber ausgedehnte Kürbis- und Melonenkultur auf, doch sind die Lehnen ebenso kahl, wie die am Vortag passierten. Bald entdeckten wir den großen Salzsee, welcher 129 km lang und 48 km breit ist und sich durch seinen hohen Gehalt an Salz auszeichnet; letzterer beträgt 22,4 Prozent gegen 3,5 Prozent im Meerwasser und wird nur von jenem des Toten Meeres mit 25 Prozent übertroffen. Kurz vor Salt Lake City näherten wir uns dem Seeufer und passierten mehrere Badestellen, so auch die heilkräftigen Beck’s Hot Springs. Zinnoberrote Büsche, welche die sonst kahlen Bergabhänge bedeckten, brachten einige Abwechslung in das recht monotone Landschaftsbild.

In Salt Lake City bestiegen wir sogleich Wagen, um an die Besichtigung des „Tabernakels“, des Hauptheiligtums der Mormonen, und der sonstigen Sehenswürdigkeiten der Stadt zu gehen.

Stifter der Mormonen-Sekte ist Joseph Smith, der in seinem 25. Lebensjahr am 6. April 1830 zu Fayette, einem Städtchen des Staates New York, seine Anhänger zu einer Gemeinde organisiert hatte; im nächsten Jahr war diese nach Ohio und 1833, von hier verjagt, nach Missouri übersiedelt. Auch aus diesem Staat ausgewiesen, wandten sich die Mormonen über County Caldwell nach Illinois, woselbst sie im Jahre 1840 in der Grafschaft Hancock die Stadt Nauvoo und einen schönen Tempel erbauten, doch mit den übrigen Einwohnern in Feindseligkeiten gerieten, die vier Jahre nach der Gründung Nauvoos zu dessen Zerstörung und zu offenem Kampf führten, bei dem Smith den Tod fand. Brigham Young, der Nachfolger Smiths im Prophetentum, wanderte mit 1500 Mann aus und zog auf beschwerlichen Pfaden über die Rocky Mountains bis zum Großen Salzsee, woselbst die Gemeinde sich 1847 niederließ und den Staat Utah begründete, Als dieser schon nach drei Jahren als Territorium anerkannt wurde, ernannte die Unionsregierung Brigham Young zu dessen Gouverneur. worauf trotz mancher Konflikte eine Zeit besonderer Blüte der Kolonie folgte; in unseren Tagen ist aber ein Rückgang bemerkbar, die Zahl der Gentiles — Nichtmormonen — hat sehr zugenommen, wodurch die sozialen Verhältnisse wesentlich verschoben erscheinen. Überdies hat auch die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten die Vielweiberei der Mormonen verurteilt und sie zum Aufgeben dieser Institution gezwungen.

Eine Rundfahrt durch die Stadt zeigte uns, was hier geleistet worden ist und wie die Mormonen es verstanden haben, den sterilen Boden durch unermüdliche Arbeit urbar zu machen. Im angenehmen Gegensatz zu Vancouver und Butte City erblickten wir hier Alleen, welche die Straßen einsäumen, und rings um die Häuser geschmackvolle Gärtchen mit immergrünem, üppigem Rasen; an den Wänden der Gebäude ranken sich verschiedene Schlingpflanzen empor, so dass jede Behausung in erfreulicher Weise die Vorliebe der Bewohner für Nettigkeit und deren Wohlgefallen an grünendem Schmuck dartut. Bäume und Gärten lassen die schachbrettartige Anlage der Stadt weniger monoton erscheinen, und einzelne Bauten sind ganz geschmackvoll ausgestattet; durch die schnurgerade gezogenen Straßen saust eine ewig klingelnde Tramway mit elektrischem Betriebe, doch sieht man auch viele gute Traber vor leichte Wagen gespannt.

Das Tabernakel ist ein riesenhafter Bau von elliptischer Form. 76m lang, 45 m breit und 21 m hoch; das Dach, von 44 schlanken Sandsteinpfeilern getragen, ist aus Holz konstruiert, mit eisernen Schindeln bedeckt und stellt eine der größten freien Bogenwölbungen der Welt dar. Der große Innenraum, welcher für die gottesdienstlichen Handlungen der Mormonen bestimmt ist, gleicht einem gigantischen Theater; das Parquet und die hölzerne Galerie umfassen 8000 Sitzplätze, während im ganzen 12.000 Personen Raum finden können; am Westende befindet sich eine Plattform mit Stühlen für den Präsidenten, die Bischöfe, die 12 Apostel und die Redner sowie für den Chor, der um eine mächtige Orgel angeordnet ist. Von außen erinnert das vollständig schmucklose Tabernakel an eine ungeheuerlich große Schildkröte.

Da nur jeden Sonntag um 2 Uhr nachmittags ein feierlicher Gottesdienst stattfindet, konnten wir einem solchen nicht beiwohnen, was wir lebhaft bedauerten. Die Akustik dieses gewaltigen Baues ist eine vorzügliche; man hört, trotz der Länge des Saales, jedes am entgegengesetzten Ende im Flüstertone gesprochene Wort und vernimmt sogar das Niederfallen einer Stecknadel auf die Galeriebrüstung, ein Experiment, welches unser Führer mit Stolz produzierte.

Östlich vom Tabernakel liegt der neue, im Jahre 1862 vollendete Tempel, ein stattlicher Bau aus lichtgrauem Granit mit je drei Türmen an den beiden Schmalseiten; der mittlere Turm der ostwärts gewandten Hauptfassade ist von einer Kolossalfigur aus reichvergoldetem Kupfer, den Mormonen-Engel Moroni darstellend, gekrönt. Da meiner Ansicht nach die Höhenverhältnisse dieses Gebäudes mit dessen Breite nicht in harmonierenden Einklang zu bringen sind, kann ich dasselbe nicht schön nennen; doch wirkt es durch seine Größe imposant. In dem Tempel werden geistliche Handlungen, so Trauungen, Taufen und die Konsekrationen zu Priestern und Bischöfen vollzogen, sowie Predigten gehalten und besondere Gebete verrichtet. Der neue Tempel hat bis nun 4,000.000 Dollars gekostet und soll in seinem Innern reich dekoriert sein; leider ist jetzt der Eintritt nur den Mormonen gestattet, weshalb wir uns mit der Besichtigung der Außenseite begnügen mussten.

Unweit des Tempels sahen wir das Tithing Storehouse, woselbst die Mormonen den ziemlich bedeutenden Zehnten in natura entrichten müssen und eben Gefährte mit abzuliefernden Waren standen. An diesen prosaischen Bau schließt sich ein kleiner Stadtteil, welcher ehedem Brigham Young, der seine Gemeinde wie ein kleiner Tyrann beherrscht hat, zu eigen war; hier sind das Bienenkorb- und das Löwenhaus, mit entsprechenden symbolischen Emblemen geschmückt, erwähnenswert, da in diesen Gebäuden zehn Frauen des Propheten wohnten, während dessen Lieblingsgattin eine gegenüberliegende Villa für sich allein besaß. Brigham Young hatte 42 Frauen und erfreute sich gesegneter Nachkommenschaft, deren Zahl, nach differierenden Mittheilungen, auf 56 bis 76 angegeben wird; wenn auch nur die erstgenannte Ziffer der Wahrheit entspricht, dürfte der seltene Familienvater nicht geringe Schwierigkeiten bei der Ernährung seines Hausstandes und der Erhaltung des häuslichen Friedens gefunden haben.

Unter den Gentiles cursieren sehr drastisch aufgefasste, photographische Karikaturen über das Eheleben Brigham Youngs, welche allein schon genügen würden, von dem Beitritt zu dieser Sekte abzuhalten. Gegenwärtig leben noch drei Witwen des vielbeweibten Mannes, sowie einige Söhne; einem dieser Sprossen begegneten wir in den Straßen.

An der Stelle, wo Brigham Young mit seiner Mormonenschar nach langer Wanderung halt gemacht, das umliegende Terrain verteilt und die Anlage der Stadt angeordnet hat, erhebt sich ein wenig geschmackvolles Standbild, einen Adler darstellend, welcher, einer brütenden Henne gleich, auf vier plumpen, eisernen Bögen sitzt. Das Grab des 1877 verstorbenen Brigham Young und mehrerer seiner Frauen liegt, nur mit einem schmucklosen Stein überdeckt, auf einem Rasenplatz, welcher von Pappeln und einem schmiedeisernen Gitter umgeben ist.

Die schönste Aussicht über Stadt und Umgebung bis zur weiten Fläche des Salt Lake bietet sich vom Prospect Hill dar; mit Freude ruht das Auge auf den zahlreichen Pappel-, Akazien- und Ahornalleen sowie auf den Gärten, über welche der Tempel und das Tabernakel unförmlich groß emporragen. Von hier ist auch das Fort Douglas zu sehen, welches vom „Uncle Sam“ erbaut wurde, als die Mormonen mit den Gesetzen und Einrichtungen der Union allzu sehr in offenen Widerspruch geraten waren.

Unser redseliger Kutscher, der mit Freund „Whisky“ auf recht intimem Fuße zu stehen schien, führte uns dann noch in der ganzen Stadt umher, zeigte uns die Häuser der hervorragendsten Mormonen und die schönsten Hotels, darunter das Templeton-Hotel, in dem ich mittels Lifts in das vierte Stockwerk fuhr, um auch von hier den Rundblick zu genießen.

Schließlich besuchten wir einige Curio Shops, in welchen sehr hübsche Objekte, besonders Mineralien aus den zahlreichen umliegenden Bergwerken, Erzeugnisse von Indianern und Felle feilgehalten wurden. Die Mormonen, welche ich bei dieser Gelegenheit sprach, machten kein Hehl daraus, dass sie sich durch die stete Zunahme der Gentiles sehr gedrückt fühlten und dass die Polygamie, obzwar sie gesetzlich nicht anerkannt sei, insgeheim doch fortbestünde.
Den Rest des Nachmittages verbrachte ich, während meine Herren nochmals in die Stadt fuhren, schreibend in meinem rollenden Haus, dem Pullmann Car. Gegen Abend entlud sich unter Donner und Blitz bei strömendem Regen ein arges Unwetter, welches uns bei der Abfahrt nach Colorado Springs das Geleit gab.

Links

  • Ort: Salt Lake City, Utah, USA
  • ANNO – am  29.09.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater spielt das Stück „Pitt und Fox“, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Die Walküre“ aufführt.

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