Beim Erwachen durch die Coupefenster blickend, sahen wir, dass das Land einen ganz anderen Charakter angenommen hatte: unser Auge schaute nicht mehr zu Bergriesen und Gletschern empor, sondern glitt über gewelltes Mittelgebirge, langgestreckte, dichtbewaldete Höhenzüge, über Täler hin, in welchen Waldparzellen mit bebauten Flächen abwechselten und zahlreiche Farmen einen gewissen Wohlstand der Gegend bekundeten. Verschiedene Seen trugen zur Belebung des Bildes umsomehr bei, als sich im Bereiche desselben auch Wild, nämlich Gänse, Enten und Taucher zeigten. Bezeichnet man die Rocky Mountains als wildromantisch, so verdient jene Landschaft das anerkennende Epitheton „lieblich“.
Leider erfreuten wir uns nicht lange dieses Anblickes; denn bald wurde der Wald spärlicher, und trockenes, gelbes Gras bedeckte die öde aussehenden Lehnen. Wir fuhren zwar noch immer an vielen Seen vorbei, vermissten aber das frische Grün, welches uns früher so angenehm berührt hatte.
In Sicamous waren wir auf das Geleise der erst kürzlich dem Verkehr übergebenen Zweiglinie Sicamous-Vernon übergegangen; die letztgenannte Endstation liegt am Okinagan-See, der sich, einem Fluss ähnelnd, 121 km lang in südlicher Richtung durch das Land zieht. Bei Priests‘ Landing vertauschten wir den Waggon mit dem „Aberdeen“, einem ungefügigen Heckraddampfer, in dessen hohem Oberbau sich die Kabinen befinden; dieses Fahrzeug gehört gleichfalls der Canadian Pacific-Bahn, und es läuft bei ausschließlicher Holzfeuerung etwa 12 Knoten.
Der „Aberdeen“ setzte sich in Bewegung, sein mächtiges Schaufelrad begann Wasserberge aufzuwühlen und wir steuerten hinaus über die spiegelglatte Fläche des Sees; der Tag war wunderschön, die Sonne strahlte auf uns herab und verbreitete eine wohltuende Wärme; besonders klare Luft ließ uns bei der nicht übermäßigen Breite des Sees an beiden Ufern jedes Detail erkennen. Das uns umschließende Mittelgebirge war teils spärlich bewaldet, teils in großen Flächen, die im Frühjahr üppig grünen sollen, mit gelbem Grase bedeckt; zahlreiche Herden weideten auf den Lehnen. Ich selbst genoss leider nur wenig von der schönen Fahrt; denn ich fühlte mich infolge einer heftigen Erkältung nicht wohl und musste daher während des größten Teiles der Überfahrt in meiner Kabine liegen; nur zeitweise vermochte ich durch ein kleines Fenster einen Blick auf die Umgebung zu werfen.
Sechs Stunden währte die Fahrt bis zu dem am südlichen Ende des Sees gelegenen Penticton, von wo aus demnächst eine Eisenbahnverbindung mit der North Pacific-Bahn der Vereinigten Staaten hergestellt werden soll; doch ist vorläufig nur der Platz für den zukünftigen Bahnhof ausgesteckt und ein hölzernes Hotel im Entstehen begriffen. Mit Rücksicht auf den projektierten Bahnbau und die voraussichtlich in kürzester Zeit aus dem Boden schießende „Stadt“ Penticton lässt die Canadian Pacific-Bahngesellschaft schon jetzt täglich, wenn auch mit Verlust, den Dampfer verkehren, nur um das Erstlingsrecht der Schiffahrt auf dem Okinagan-See zu wahren und eine allfällige Konkurrenz von vorneherein auszuschließen. Vorläufig fährt nur selten ein Passagier, meist nur ein Jäger oder Squatter mit, und auch wir hatten bei unserer Fahrt nur zwei Reisegesellschafter. Die Unternehmungslust der Amerikaner scheut eben selbst bedeutende Auslagen nicht, die einen Gewinn in der Zukunft erwarten lassen.
Noch spät abends wurde alles für unsere geplante Jagdexpedition in die Gold Range besprochen, bestimmt und vorbereitet.
Links
- Ort: Penticton, Kanada
- ANNO – am 11.09.1893 in Österreichs Presse.
- Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater das Ballet „Die goldene Märchenwelt“ aufführt.