Vormittags besuchte ich einige der zahlreichen Kuriositätenläden der Stadt, welche, nach den Preisen zu schließen, auf die Ausbeutung der Fremden berechnet sind; die interessanteren, von Indianern herrührenden Gegenstände sind unerschwinglich. Die Fälle existieren hier in zahllosen photographischen Aufnahmen, und möchte ich fast behaupten, dass erstere im Bild noch wirkungsvoller sind als in der Natur. Ausgestopfte Tiere in den unglaublichsten Stellungen scheinen einen beliebten Kaufartikel zu bilden.
Der Rundsicht nach allen Richtungen dient ein beinahe 100 m hoher eiserner Turm, dessen Spitze mit einem Lift binnen weniger Sekunden erreicht ist; doch musste auch hier mit Bedauern konstatiert werden, dass es an landschaftlichen Reizen fehlt und das Auge nur über eine langweilige, mit Ortschaften übersäete Ebene schweift.
Von dem auf kanadischem Ufer gelegenen Rapids Park steigt man mittels einer Drahtseilbahn zu den Stromschnellen, den Whirlpool Rapids hinab. Die gewaltige Wassermasse wogt daselbst, hohe Wellen aufwerfend, durch die verengte Schlucht dahin und nimmt, da sie in derselben nicht genügend Raum findet, tatsächlich eine konvexe Form an. Hier büßte im Jahre 1883 Captain Webb bei dem Versuch, die Stromschnellen zu durchschwimmen, sein Leben ein; einem Nachfolger. der sich jedoch zu dem gleichen Zweck in ein Fass einschließen ließ, gelang in späterer Zeit das tollkühne Wagnis. Dass Blondin die Fälle auf dem Seil überschritten hat, ist bekannt.
In jeder Beziehung höchst interessant ist die Fahrt auf einem kleinen Dampfer, welcher von dem auf dem amerikanischen Ufer gelegenen Prospect Park aus beinahe bis unter den Hufeisenfall steuert, so dass der aufgeworfene dichte Wasserstaub das ganze Deck überspült: mit großem Geschick fährt der Kapitän so nahe als möglich an den Fall heran, dass das Schifflein auf den Wirbeln und Wellen tanzt und der Beschauer von dem im Sonnenlicht grell leuchtenden Gischt förmlich geblendet wird. Während der Fluss an anderen Stellen eine dunkelgrüne Färbung zeigt, ist hier alles weiß in Weiß — die herabstürzenden Massen, der Wasserstaub und die zahllosen Wirbel, die wie siedendes Wasser aufschäumen. Der dumpfe, tosende Lärm, der aus nächster Nähe an das Ohr dröhnt, wirkt sinnverwirrend.
Der Dampfer trägt den Namen „Maid of the Mist“ zur Erinnerung an eine alte Sage, welche erzählt, dass die Indianer seinerzeit alljährlich dem Gott des Falles das schönste Mädchen des Stammes opferten; dieses wurde in ein blumengeschmücktes Kanu gesetzt und so über die Fälle in den Tod getrieben. Als einst die Lieblingstochter eines Häuptlings diesem Los verfiel, stürzte der unglückliche Vater ihr nach und verschwand mit seinem Kind im tosenden Fall. Im Lauf der Zeit wurde diese Sage geändert und ausgeschmückt, die Indianerin verwandelte sich in eine Fee, die jene aufnimmt, die aus Unvorsichtigkeit oder freiwillig im Niagara den Tod finden; denn alljährlich fordert der Strom zahlreiche Opfer.
Prospect Point, ein mit einer schützenden Steinmauer versehener Aussichtspunkt des gleichnamigen Parkes, liegt unmittelbar am Rande des amerikanischen Falles und bietet dem Besucher die Möglichkeit, zu seinen Füßen die ungeheuere Wassermenge, in weißen Staub aufgelöst, über die Felsen stürzen zu sehen. Ostwärts schreitend erreichten wir die Brücke, welche nach Bath Island führt, und von hier über eine zweite Brücke Goat Island, das, durch reiche Baumvegetation geschmückt, zahlreiche Aussichtspunkte, unter diesen als bemerkenswertesten den dicht neben dem Hufeisenfalle gelegenen Terrapin Rock, besitzt.
Links
- Ort: Niagara Falls, New York, United States
- ANNO – am 05.10.1893 in Österreichs Presse.
- Das k.u.k. Hof-Burgtheater spielt das Stück „Die neue Zeit“, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Aida“ aufführt.