New York, 6. Oktober 1893

Die Nacht hindurch fuhren wir mit rasender Schnelligkeit an vielen Städten und an zahlreichen großen Etablissements vorbei, was wir an dem elektrischen Licht erkannten, welches blitzartig an unseren Coupefenstern vorbeihuschte. Als der Morgen angebrochen war, eilten wir am Ufer des Hudson dahin, den wir bis New York nicht mehr verließen; dichter Nebel verschleierte das gegenüberliegende Ufer und nur auf unserer Seite sahen wir viele zuberg und zutal fahrende Schiffe.

Auf dem Bahnhof in New York und im Hotel Windsor harrten meiner zahlreiche Reporter, deren Bemühungen jedoch auch hier vergebliche blieben. Ich zog es vor, unseren Gesandten und den Generalkonsul Havemeyer zu empfangen, bei welchem Anlasse letzterer, eine der reichsten Persönlichkeiten New Yorks, mich einlud, am nächsten Tag seine Farm zu besichtigen.

Eine nähere Untersuchung unseres Gepäckes offenbarte uns dessen durch die rüde Behandlung auf den amerikanischen Bahnen eingetretenen desolaten Zustand. Nicht weniger unerfreulich berührte, dass eine fällige Post nicht eingetroffen war, so dass wir die Hoffnung, die mit Bestimmtheit erwartete Sendung noch zu erhalten, der unmittelbar bevorstehenden Abreise wegen aufgeben mussten.

Von einer Besichtigung New Yorks konnte nicht die Rede sein. es galt also nur im Flug ein Gesamtbild, eine Momentaufnahme zu erhaschen. Zu diesem Zweck steuerten wir nach dem nächst City Hall Park im Zentrum des älteren Stadtteils gelegenen Pulitzer Building mit dem World’s Office, den Geschäftsräumen einer der größten Zeitungen, die alltäglich in der Auflage von einer halben Million Exemplaren hier das Licht der Welt erblickt. Der palastähnliche Bau ragt mit 17 Stockwerken bis zur Höhe von 94 m empor und wird von einer mächtigen Kuppel gekrönt. Von hier gewinnt man einen vortrefflichen Überblick über die Stadt, welche dort, wo im Jahre 1624 durch die Holländisch-westindische Kompanie die erste dauernde Niederlassung gegründet worden ist, zu dem größten und reichsten Gemeinwesen der neuen Welt, zu einem nur London nachstehenden Handels- und Geldplatz geworden ist und heute mit Brooklyn, Jersey sowie mit einigen Vororten 3,5 Millionen Einwohner zählt.

Wie ein plastischer Plan liegt der Komplex von Städten unter uns; zunächst das eigentliche New York auf der Manhattan-Insel, welche vom North River oder Hudson und vom East River bespült wird; östlich erhebt sich Brooklyn, westlich Jersey City; zwischen diesen erstreckt sich die ausgedehnte Upper Bay mit der kolossalen Freiheitsstatue, einem Geschenk der ideenverwandten Französischen Republik, auf Bedloe’s Island; in der Ferne sieht man Staten Island und Coney Island, die bereits im Nebel zu verschwinden scheinen. Im Hafen wie auf beiden Flüssen tummeln sich Schiffe aller Größen und aller Nationen, der kleine Segelkutter und der Fünfmaster, die schnellen Bowers und die Atlantic-Dampfer.

Während der untere und ältere Teil der Stadt unregelmäßig erbaut ist, die Straßen enge und krumm dahinziehen, feiert oberhalb der 13. Straße die Regelmäßigkeit der Anlage in den sich im rechten Winkel schneidenden Verkehrsadern den vollendetsten Triumph. Nur der Broadway, die alte Hauptstraße und Schlagader New Yorks, welche sich vom Südosten nach dem Nordwesten erstreckt, und der Central Park unterbrechen die Monotonie des städtischen Bildes. Gleichwohl ist dieses durch die Großartigkeit seiner Nüchternheit sowie durch die Mächtigkeit seiner Dimensionen imponierend — schön kann ich es nicht nennen.

Vier Hochbahnen, Tramways, Omnibusse und Wagen aller Arten durcheilen die Straßen und bewältigen ebenso wie die zahlreichen Dampffähren im Hafen und auf den Flüssen, den enormen lokalen Verkehr. Dahinfließenden dunklen Strömen gleich schieben sich Menschenmassen nach allen Richtungen des Weichbildes.

Während wir aus schwindelnder Höhe auf die Städte herabblickten, welche da blühen und wachsen, wurden wir von einem Gefühle der Ehrfurcht ergriffen vor jenem höchsten Wesen, welches hier lebt und regiert — vor dem allmächtigen Dollar!

Die aus der Vogelperspektive gewonnene Skizze durch einige kräftigere Striche ergänzen zu können, durchfuhren wir die Stadt in einigen ihrer bedeutendsten Teile. In der älteren Ansiedlung vereinigt sich das geschäftliche Leben, hier herrscht das „Business“, ist die Geburtsstätte der Millionen.

Der Broadway leitet, einem Saugrohr gleich, diese lieblichen Kinder des Südens nach den oberen Regionen der Stadt und der Gesellschaft, dorthin wo die goldenen Früchte in behaglichstem Komfort, in fürstlicher Pracht, in schwelgerischem Luxus verzehrt werden. Der Abstand zwischen Production und Konsumtion der Millionen beträgt nur 8 km; denn in dieser Länge erstreckt sich der Broadway bis zum Central Park, um von hier als Boulevard weiter zu laufen. In dem unteren Teil entwickelt sich ein sinnbetäubendes Verkehrsleben, eine wahnwitzige Jagd nach dem Glück, nach dem Dollar. Je mehr der Broadway sich der oberen Stadt nähert, um so zahlreicher, glänzender, üppiger werden die Verkaufspaläste und Läden, Stores; hier ist der Bereich derjenigen, welche die ausgelegten Schätze wohl zu erwerben vermögen. Zwischen der 23. und 25. Straße kreuzt der Broadway die Fifth Avenue, die, in ihrem südlicheren Teil gleichfalls dem geschäftlichen Leben dienend, von der 42. Straße an den eigentlichen Sitz der Geldaristokratie, der Millionäre und hiedurch das Herz von New York bildet. Die Fifth Avenue ist von einem Elevated Railroad und einer Tramway bisher noch verschont geblieben; stattliche Privathäuser, stolze Paläste reihen sich hier aneinander; man hat auch den Versuch gemacht, künstlerisch schöne Bauwerke zu errichten, aber keinerlei Erfolg erzielt, da der Baustil im ganzen und großen der gleiche ist und der als Material verwendete braune Sandstein keinen Effekt hervorbringt.

Als Spezialität des Straßenbildes dürfen die zahlreichen Bars angesehen werden, welche dem Publicum allerlei mehr oder weniger kombinierte Getränke bieten; „Hoffmanns Haus“ tut ein übriges, indem es seinen Gästen auch den bildnerischen Anblick europäischer Künstler ermöglicht, die wohl eine würdigere Stätte verdient hätten.

In den Vereinigten Staaten liebt man es, in Anwandlungen von Selbstüberschätzung und Eigendünkel von jedem Werke, jeder Erfindung, jeder Institution zu behaupten, dass hiemit das Beste, das Größte der Welt geboten sei und dem Schlagwort „the first of the world“ begegnet man allenthalben, obwohl diese Bezeichnung nicht immer zutrifft; in Anwendung auf die East River-Brücke oder Brooklyn-Brücke, wie sie auch genannt wird, ist jedoch. die Berechtigung jenes Superlatives nicht wegzuleugnen. Wir hatten hier in der Tat die größte Hängebrücke der Welt vor uns; ein Meisterwerk technischer Kunst, ist diese Verbindung zwischen New York und Brooklyn 1825 m lang und 26 m breit, die Brücke erhebt sich 41 m über den Flutwasserstand, so dass die Schiffe unter derselben passieren können, ohne die Stengen zu streichen; in der Mitte ist ein erhöhter Fußweg angelegt, zu dessen Seiten zwei Bahngeleise und zwei Fahrstraßen angeordnet sind. Im Trab fahrend, brauchten wir beinahe 13 Minuten, um von dem einen Ende der Brücke zum anderen zu gelangen.

Die weitere Rundfahrt vervollständigte durch den Anblick zahlloser, in bunten Farben, in allen Dimensionen und Formen prangender, marktschreierischer Reklamen den Eindruck geschäftlicher, auf ihrem Höhepunkt angelangter Betriebsamkeit und durch den Mangel an Gärten sowie an grünenden Plätzen jenen der Nüchternheit, welchen einige Standbilder nicht zu bannen vermögen, jenes von Garibaldi wohl am wenigsten.

Unmittelbar nach dem Frühstück besuchten wir den Central Park, den Prater New Yorks, woselbst sich nachmittags die reiche Welt Stelldichein gibt. Mit Stolz wurde uns berichtet, dass die durch eine niedrige Steinmauer umfriedete Gartenanlage einem sumpfigen und felsigen Terrain mit dem Aufwand von 15 Millionen Dollars abgerungen worden sei. Der ausgedehnte Park erscheint als wahres Labsal durch das frische Grün der Bäume, worunter namentlich zahlreiche Varietäten von Eichen, und der Rasenplätze, durch die malerisch angeordneten Baumgruppen und Lichtungen; mehrere Teiche, darunter die Croton Reservoirs tragen zur Abwechslung bei.

Die Mall, eine breite, von mächtigen Ulmen eingefasste und durch eine Reihe von Bildwerken geschmückte Fahrbahn, bietet in der Season Gelegenheit zu glänzenden Auffahrten, zur Schaustellung der Millionäre New Yorks. Den Mietwagen und Equipagen sahen wir auffallend schöne Pferde vorgespannt — eine Beobachtung, die ich schon während der Rundfahrt durch die Stadt machen konnte, wie ich denn auch wahrgenommen hatte, dass selbst die Pferde der Lastwagen sich als gar stattliche, gute Exemplare präsentieren. Hingegen errangen die Wagen, welche im Park an uns vorbeirollten, meinen Beifall nur in minderem Grade, da sie zwar luxuriös gebaut sind, aber der Gefälligkeit und Eleganz in der Form entbehrten. Auch von den zahlreichen Reitern und Amazonen, die auf- und niedersprengten, war ich nicht sonderlich entzückt.

Das Diner nahmen wir bei Delmonico, auf dem Madison Square, einem Restaurant, welches sich unbestritten des ersten Ranges sowie weitreichender Berühmtheit erfreut und uns nicht nur Roastbeef oder Lammkoteletten, sondern auch auserlesene Produkte französischer Küche bot; distinguiertes Publikum füllte die eleganten Räume.

Den Abend beschlossen wir in Koster und Bials Variete-Theater, womit eine Restauration in Verbindung steht. Wir wohnten hier einer Vorstellung nach Art jener bei, wie sie im Wiener Etablissement Ronacher geboten werden, und waren nicht wenig erfreut, als drei Sängerinnen, dem Anschein nach Österreicherinnen, die „Blaue Donau“ vortrugen. Minder angeregt fanden wir uns durch ein am Schluss aufgeführtes Ballett, welches ein Fest am Hofe Ludwig XIV. zum Vorwurf hatte; die Ausstattung und die Darstellung ließen ebenso viel zu wünschen übrig, wie die Tänzerinnen, die den Jugendjahren zumeist schon seit längerer Zeit entwachsen waren.

Links

  • Ort: New York, New York, USA
  • ANNO – am 06.10.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater spielt das Stück „Othello“, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Margarethe (Faust)“ aufführt.

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