Mija-schima — Kioto, 7. Aug. 1893

Bei Sonnenaufgang eilte ich rasch zum Schinto-Tempel, um diesen auch bei Tageslicht in Augenschein zu nehmen und nochmals die Galerie der Votivbilder zu durchwandern. Dann schifften wir uns wieder auf dem „Jajejama“ ein und verließen, mit Geschütz- und Raaensalut der beiden zurückbleibenden Kriegsschiffe begrüßt, Mija-schima, welchem Eiland die Erinnerung als an einen der hervorragendsten Punkte der bisherigen Reise gesichert bleibt.

Das Wetter begünstigte uns sichtlich; der Tag war herrlich, und wir konnten uns gänzlich dem Genuss der landschaftlichen Eindrücke hingeben, die uns das Binnenmeer mit seiner Welt von Inseln bot. Zahllos bedeckten auch heute Fischerboote aller Art die See, schienen jedoch vorsichtiger zu sein als die Fahrzeuge, welchen wir gestern begegnet waren; denn sie wichen dem „Jajejama“ schon in großer Entfernung aus, sobald dessen Dampfpfeife ihren schrillen Ton hören ließ.

Die Küste der Provinz Aki und die Eilande, zwischen denen wir uns hindurchwanden, zeigten während der ersten zwei Stunden unserer Fahrt ganz das gleiche Gepräge wie das Festland und die Inseln, die wir tags vorher passiert hatten; grünende Berge und felsige Formationen origineller Natur bilden auch hier den Grundton der Szenerie. Allmählich gewinnen jedoch die Höhen und Abhänge einen anderen Charakter, da sie immer kahler werden und die Vegetation zurücktritt, um durch gelbes Gestein ersetzt zu werden, dessen weithin leuchtender Glanz der Landschaft eine eigentümliche Färbung verleiht. Es ist, als ob die Eingeweide der Berge und Hügel zutage träten — wahrscheinlich die traurige Folge maßlosen Holzabtriebes, dessen Nachteile zu spät erkannt wurden, wie sich aus den Versuchen entnehmen lässt, den unproduktiv gewordenen Boden durch Aufforstungen wieder ertragreich zu gestalten. Vom Deck aus konnten wir die regelmäßigen Linien der jungen Kulturen wahrnehmen, die aber noch keinen Erfolg, sondern eben nur den ersten Schritt zur Behebung des Schadens bedeuten. An vielen Stellen sind Kalksteinbrüche sichtbar, welche geschätztes Baumaterial liefern.

Der „Jajejama“ hatte noch manche enge Passage zu durchfahren, bis wir vor Mihara in der Provinz Bingo landeten, wo wir uns ausschifften, um nach Verabschiedung von den Schiffsstäben — auch vor Mihara lagen zwei große japanische Kriegsfahrzeuge — zur Bahnstation zu eilen.

Mihara bildet den dermaligen Endpunkt der Sanjo-Eisenbahn, welche jedoch in einiger Zeit die Nordküste der Inland-See entlang bis nach Shimonoseki geführt und mittels eines Dampftrajektes an die Bahnstrecke Modschi-Kumamoto angeschlossen werden soll. Die von der Eisenbahnstrecke durchzogene Landschaft trägt anfänglich denselben Grundzug, den wir an der Küste schon vom Schiff aus wahrgenommen; doch entschädigen für die weniger erfreulichen Spuren der Holzdevastation die oftmals sich darbietenden Ausblicke auf die See und auf malerische Buchten. Ganze Reihen von Salinenanlagen sind längs der Meeresküste bemerkbar; der größte Teil der Ebenen ist der Reiskultur gewidmet; auch hier wurde mit der Aufforstung der kahlen Lehnen, welche schon mit einem grünen Anflug überzogen sind, begonnen, doch leiden die Kulturen sehr durch die Trockenheit — ein Schmerzensschrei widerhallt im ganzen Land ob der Dürre, welche sogar die Austrocknung größerer Flussbette nach sich gezogen hat. Allmählich nimmt die Gegend freundlichere Formen an, die Hügel sind bewaldet, Cryptomerien, Fichten und Bambus winken uns entgegen, und endlich eilen wir wieder in der uns bereits lieb gewordenen Landschaft echt japanischen Charakters dahin.

In der reichen Handels- und Hafenstadt Onomitschi sowie in kleineren an der Bahn liegenden Ortschaften ist der Schienenstrang mitten durch die Stadt, um nicht zu sagen durch die Häuser gezogen; letztere treten so nahe an die Bahn heran, dass man von den Coupefenstern aus mit den Wohnungsinsassen, die sich in ihrem Tagwerk durch den brausenden Zug gar nicht stören lassen, ohne Schwierigkeit konversieren könnte. Selbstverständlich stand ich am Fenster und konnte so manche heitere, ja komisch wirkende Familienszene beobachten. Unweit Onomitschi liegt ein Tempel, Senkoschi genannt, in ganz Japan berühmt durch die prächtige Fernsicht, welche er bietet. Schade, dass uns dieser Genuss versagt blieb!

Vor der Station Fukujama, der Hauptstadt der Provinz Bingo, erblickten wir das auf einem Hügel errichtete, im Pagodenstil erbaute Schloss der früheren Daimios, der jetzigen Grafen von Abe, welches sich, wie es den Anschein hat, eines ungewöhnlich guten Erhaltungszustandes erfreut. Ein ähnliches Castell liegt in Okojama und wurde den vormaligen Daimios, den nunmehrigen Viscounts von lkeda, wieder zurückgestellt. Nach dem ursprünglich festgesetzten Programme hätten wir in Okojama bleiben und übernachten sollen, ich zog jedoch vor, ohne Unterbrechung bis Kioto zu fahren, um an diesem Ort länger verweilen zu können; gleichwohl prangte die ganze Stadt in festlichem Flaggenschmuck und eine tausendköpfige Menge drängte sich in der Nähe des Bahnhofes, auf dem sich Würdenträger und Deputationen in großer Zahl versammelt hatten. Der Bürgermeister von Okojama begrüßte mich in einer längeren Ansprache und überreichte mir eine Sammlung schöner Photographien, welche die Stadt, einzelne Punkte der Umgebung, allerlei Szenen aus dem Leben und Typen darstellten.

Übrigens waren auch in allen anderen Stationen, in welchen wir halt machten, die Lokalbehörden, die Schuljugend und die Feuerwehr, wo Garnison lag, auch das Offizierskorps zur Begrüßung erschienen, so dass ich angesichts dieses ehrenvollen Empfanges mich hätte für einen Potentaten halten können, der sein Land bereist. Von dem Wunsch geleitet, dem Hof und der Regierung die Pflichten der Courtoisie und der Gastfreundschaft möglichst zu erleichtern, hatte ich, wie bereits erwähnt, schon früher das Ersuchen gestellt, die Fahrt bis Jokohama in eine Incognitoreise zu verwandeln oder doch die Empfangsfeierlichkeiten auf das Maß des für unumgänglich nötig Erachteten einzuschränken; doch wurde augenscheinlich Gewicht darauf gelegt, mich mit dem größten Zeremoniell durch das Land zu geleiten.

Als die Ermüdung endlich anfing, ihre Rechte geltend zu machen, begab ich mich zur Ruhe und sank bald in Schlaf, so dass ich um 11 Uhr nachts einen glänzenden, durch ein Feuerwerk bereicherten Empfang in Kobe versäumte, zu welchem sich auch die Stäbe der hier ankernden Schiffe eingefunden hatten.

Links

  • Ort:  Kyoto, Japan
  • ANNO – am 07.08.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Margarethe (Faust)“ aufführt.

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