Kioto, 8. Aug. 1893

Von Kobe zieht die nach Tokio führende Tokaido-Bahn der Küste folgend bis Osaka, um sich von hier landeinwärts und in nordwestlicher Richtung gegen Kioto zu wenden, wo wir mit einer durch die festlichen Empfänge verursachten bedeutenden Verspätung um 1 Uhr nachts anlangten. Hier bestieg ich einen Hofwagen und eilte, von einer langen Reihe Dschinrickschas gefolgt, in welchen die Suiten Platz genommen hatten, nach dem Goscho, dem kaiserlichen Palais, das nach langer Fahrt durch die geradlinigen, sich rechtwinkelig schneidenden Straßen erreicht wurde. Ungeachtet der vorgerückten Stunde hatte sich entlang des Weges eine dichtgedrängte Menschenmenge angesammelt, welche unter und zwischen Lampions, die in den heimatlichen Farben erstrahlten, Spalier bildete.

Der kaiserliche Palast ist von einem Garten und einer hohen, überdachten Mauer umgeben und macht einen unansehnlichen Eindruck, welcher durch die dunklen, aus dem Holz des Hinoki, der Sonnenzypresse (Chamaecyparis obtusa), erbauten Wände und die steil abfallenden, mit der Rinde jenes Baumes gedeckten Dächer nicht erhöht wird. Die Räume des uns angewiesenen Hauses sind in original japanischer Art einfach, aber sehr geschmackvoll ausgestattet; wir finden auch hier die Schiebetüren und die lichten Matten; an den Wänden sind kunstvoll auf Goldgrund ausgeführte bildliche Darstellungen zu sehen. Eine Veranda umschließt das Gebäude und führt unmittelbar in den Garten, woselbst zahllose Diener des Gesetzes alle vermeintlichen Gefahren von mir abwehren.

Mit Rücksicht auf die späte Stunde, um welche wir uns zur Ruhe begeben hatten, glaubte ich dadurch, dass ich das Palais schon früh am Morgen verließ, meinem Gefolge entschlüpfen und in unauffälliger Weise die Sehenswürdigkeiten Kiotos besichtigen zu können; hierin aber hatte ich eine falsche Rechnung gemacht, da ich kaum eine halbe Stunde durch die Stadt gewandert war, als mir die Herren der japanischen Suite bereits auf dem Fuße folgten, nicht wenig besorgt, dass ich ob der Verspätung ungehalten sein könnte.

Mein erster Besuch galt der katholischen Kirche, einem freundlichen Gotteshaus in gotischem Stil, welches von einem japanischen Architekten erbaut worden ist; französische Patres walten hier mit nicht geringerem Eifer als die in der Nähe angesiedelten Klosterfrauen, deren segensreiches Wirken bereits Früchte getragen hat.

Kioto, 298.500 Einwohner zählend, erstand in der fruchtbaren Ebene der Provinz Jamaschiro, — einer der fünf Stammprovinzen (Go-kinai) Japans, welche die Grundlage des Reiches gebildet haben und in denen alle kaiserlichen Residenzen gelegen waren — zwischen den Flüssen Kamo und Katsura. Mit dem größeren Teil am rechten, mit dem kleineren, zu den bewaldeten Höhen des Higaschi-jama aufsteigenden Teil an dem linken Ufer des Kamo-gawa gelegen, in einiger Entfernung auch nördlich und westlich von bewaldeten Bergen umsäumt, ist Kioto durch seine landschaftliche Szenerie, durch die Regelmäßigkeit seiner Anlage, wie nicht minder durch die Reinlichkeit der nicht eben breiten Straßen vorteilhaft bekannt.

Hohes Ansehen hat diese Stadt seit jeher genossen als Mittelpunkt blühenden Kunstgewerbes, namentlich der Seiden-, der Metall- und keramischen Industrie; ehrwürdig und hochberühmt aber ist Kioto als der klassische Boden einer mehr denn tausendjährigen Geschichte des alten Japans — der Genius der neueren Historie hat sich in Tokio niedergelassen. Im Jahre 794 hatte der Mikado Kwammu, einer der bedeutendsten Fürsten des Landes, seine Residenz nach dem Dorf Uda verlegt, indem er hier einen Heian-scho, das heißt Friedensschloss, benannten Palast erbaute und hiedurch den Grund zu der Stadt Kioto legte, deren Name in chinesischer Sprache „Hauptstadt“ bedeutet. Das Jahr 1868 ist wie über vieles andere auch über Kiotos Stellung mit ehernem Tritte hinweggegangen — es galt, mit einer großen geschichtlichen Vergangenheit, mit eingewurzelten Traditionen zu brechen; den neuen Ideen musste ein günstigerer Nährboden gegeben werden als die Stätte alter Erinnerung. So wurde denn die Residenz des Mikados nach Tokio verlegt und damit die Hegemonie Kiotos gebrochen — erstere Stadt bedeutet die Zukunft, letztere die Vergangenheit Japans. Dem konservativen Japaner aber ist Kioto, obschon dieses nicht nur in politischer, sondern auch in materieller Beziehung zu Gunsten Tokios verloren hat, noch immer der geistige Mittelpunkt, der Sitz der Geschichte, der Gelehrsamkeit und der Kultur Japans. Und noch einen Ruhm hat Kioto behalten: es ist die Stadt der Tempel, deren in ihrem Weichbild und dessen Umgebung an 3000 vorhanden sein sollen. Was dem Katholiken Rom, dem Russen Moskau, dem Mohammedaner Mekka, dem Buddhisten Kandy, das ist Kioto dem Japaner, mag dieser dem Buddhaismus oder dem Schintoismus anhängen.

Alle die 3000 Tempel zu besichtigen, wäre des Guten doch zu viel gewesen, so dass wir uns auf die hervorragenderen beschränkten. Begonnen wurde mit dem buddhistischen Haupttempel der Jodo-Sekte, dem Tschion-in, welcher im östlichen Teil der Stadt, einer Festung ähnlich, auf einem Hügel liegt.

Die Jodo-Sekte, deren Priester das Zölibat streng beobachten, sich des Fleischgenusses enthalten und lehren, dass das Seelenheil hauptsächlich von der Befolgung frommer Gebräuche abhänge, wurde im Jahre 1173 von Honen Schonin gegründet und blühte unter dem Schogunat der Tokugawa. Eine mit Kirschbäumen eingefasste Avenue führt zu dem Haupteingang des Tempels, einem zwei Stockwerke hohen Bau, welcher, aus schwerem Holzwerk gefügt, eine ebenso originelle als elegante architektonische Form aufweist. Eine steil angelegte, von düsteren Cryptomerien eingerahmte Treppe führt zu einem großen Vorhof, an dessen Ende in einem reizenden Hain der Haupttempel, Hondo, liegt; im Vorhof stehen mehrere prachtvolle Bronzegefäße, welchen Wasser entquillt, bestimmt, von den Gläubigen zur Reinigung der Hände vor dem Betreten des Tempels verwendet zu werden; diesem Zweck dient offenbar auch eine Anzahl hier hängender, blaugeblumter, Spuren des Gebrauches zeigender Handtücher. Das Hauptgebäude, eine gedeckte, mächtige Säulenhalle, ist gleichfalls aus dem universellen Material, aus Holz, konstruiert und daher wiederholt ein Raub der Flammen geworden, so das letzte Mal im Jahre 1633, worauf die Wiedererrichtung in der jetzigen Gestalt erfolgte.

Wir mussten uns der Schuhe entledigen und betraten den jedem Besucher zugänglichen Raum, in dem mehrere Bonzen Gebete murmelten und die Gongs schlugen; doch schien die Neugierde größer zu sein als die Andacht, da die Priester nach uns blickten und mit ihrem Geläute aus dem Takt kamen. Sannomija, welcher in jungen Jahren selbst Tempelpriester gewesen, rief seine ehemaligen Berufsgenossen herbei und erteilte ihnen den Befehl, uns durch alle Räume des Tempels zu geleiten. Die Bonzen, deren glattrasierte Häupter mit eigentümlichen, netzartigen Mützen bedeckt waren, trugen eine Art Stola um den Hals geschlungen und zeichneten sich durch die Pracht ihrer Gewänder aus, obwohl diese nach der strengen Vorschrift eigentlich aus kleinen Stücken zusammengefügt sein sollen, um zu versinnbilden, dass die Priester seinerzeit in Lumpen gehüllt einhergingen. Die Götzendiener verrichten nicht nur die vorgeschriebenen Gebete und Zeremonien, sondern treiben auch einen schwunghaften Handel mit Amuletten und stellen den Gläubigen gegen entsprechendes Trinkgeld Passepartouts für den Himmel aus.

Im Haupttempel selbst, einem der größten derartigen Bauwerke Kiotos, erhebt sich innerhalb eines durch vier Säulen begrenzten Raumes und auf einem tischartigen Altar ein prachtvoll vergoldeter Schrein, welcher die Statue des Sektenstifters enthält. Dieselbe wird den profanen Blicken in der Regel nur einmal im Jahre bei der Erinnerungsfeier an die Begründung der Lehre gezeigt; mir zu Ehren wurde jedoch eine Ausnahme gemacht und der Anblick des Heiligtumes gewährt, indem ein Bonze unter zahlreichen Kniebeugungen den Schrein öffnete. Die Statue stellt einen kleinen, wohlbeleibten Mann mit schmunzelnder Physiognomie dar, welcher behaglich auf einem Kissen ruht und in seinem gesamten äußeren Habitus mehr an einen gemütlichen Lebemann als an einen strengen Religionsreformator erinnert. Der das Heiligtum tragende Altar zeichnet sich durch herrliche Lack- und Bronzearbeit aus, welche in harmonischer Verschmelzung eine selten künstlerische Wirkung hervorbringt; die umrahmenden Holzsäulen sind reich vergoldet, die Kapitäler derselben sowie die Friese und Deckenfelder durch kunstvolle Schnitzereien, fabelhaftes Getier und allerlei andere Symbole darstellend, verziert.

Vor den Stirnsäulen ragen gewaltige Bronzevasen, Lotosblumen aus Metall tragend, auf, welche fast bis zur halben Höhe des Tempels emporreichen; zahlreiche Lampen, Räuchergefäße und Ständer aus Bronze bilden einen besonders wertvollen Schmuck und weisen alle nur denkbaren Variationen hinsichtlich der Größenverhältnisse auf, da sich neben Lampen und anderen Metallobjekten von mehreren Metern Höhe Gegenstände befinden, welche in den minimalsten Dimensionen gehalten sind, so Lämpchen, die kaum eine Miniaturflamme zu bergen vermögen. Was immer wir aber schauen, ist in den edelsten Formen gehalten und bezeugt den vornehmen, feinfühlenden Geschmack der Künstler, welche diese Meisterwerke geschaffen.
Seitwärts vom Hauptaltar steht der Altar Buddhas, eine Eigentümlichkeit, die mit dem Umstand zusammenhängt, dass der Tempel eben dem Sektenstifter geweiht ist. In mehreren vergoldeten Schreinen liegen auf kleinen Postamenten Täfelchen zur Erinnerung an verschiedene Personen, mit deren Andenken jenes an fromme Zuwendungen
und Stiftungen zugunsten des Tempels verbunden ist; diese Täfelchen, deren sich eine bedeutende Anzahl vorfindet, machen in ihrer Anordnung ganz den Eindruck des Modelles eines Friedhofes.

An den Haupttempel schließen sich in großer Zahl Baulichkeiten aller Art und der verschiedensten Bestimmung an, so eine Konferenzhalle und eine Bibliothek, welche eine Sammlung aller buddhistischen Vorschriften und mehrere Buddha-Altäre enthält, die je eine reich vergoldete Statue tragen, welche den Gott, mit einem Heiligenscheine versehen, unter oder auf einer geöffneten Lotosblume sitzend darstellt. Die nächste Umgebung der Altäre zeigt Spuren des häufigen Besuches der Gläubigen, und die Vergoldung ist oft genug an einzelnen Stellen der Buddha-Figuren abgewetzt, was sich daraus erklärt, dass fromme Wallfahrer, die von des Gottes Macht Linderung eines körperlichen Schmerzes oder Beseitigung eines Gebrechens erflehen, die bresthafte Stelle ihres Körpers an dem entsprechenden Teile der Statue zu reiben pflegen — eine Form der Betätigung religiöser Überzeugung, welche an drastischer Komik wohl nichts zu wünschen übrig lässt.

Ein weiteres an den Tempel sich anreihendes Gebäude ist der Palast, welcher von dem Schogun Ijemitsu, der von 1623 bis 1651 regiert und sich durch hervorragende Tatkraft ausgezeichnet hat. erbaut wurde; jener umfasst ein wahres Labyrinth von Räumlichkeiten, die in früheren Zeiten zum Teil für den Mikado, zum Teil für den seines Amtes als Oberpriester waltenden kaiserlichen Prinzen bestimmt waren, jetzt aber von den Bonzen zu Wohnzwecken verwendet werden oder unbenützt sind. Diese Räume erscheinen durch die Malereien, welche die Schiebewände bedecken, ausgezeichnet; wir erblicken hier alte, hochberühmte Werke bedeutender Meister, die sich in der Wiedergabe von allerlei Getier und Pflanzen sowie von Szenen aus dem Leben verewigt haben. Einzelne dieser Gemächer zeigen bewundernswerte Darstellungen von Fichten-, Bambus- und Pflaumenbäumen, von Chrysanthemen, von Weiden, von Winterlandschaften u. dgl. m.; besonderen Rufes erfreut sich die Abbildung einer Katze, welche dem Beschauer, wo immer dieser seinen Standpunkt gewählt haben mag, den Kopf zuzuwenden scheint, ferner eine Darstellung von Fichten und jene eines Sperlings, deren Naturwahrheit durch die Anekdoten charakterisiert wird, dass die gemalten Bäume Harz ausgeschwitzt hätten, der Sperling aber, kaum vollendet, zu fliegen begonnen habe. Diesen Kunstwerken gegenüber ist die Spielerei nicht verschmäht worden, die den Fußboden einer Veranda bildenden Bretter so zu fügen, dass dieselben, wenn man darüber hinwegschreitet, in einer an Vogelstimmen gemahnenden Weise quietschen.

Unterhalb der Stirngalerie des Tempels steckt im Gebälk ein vergilbter, verwitterter Regenschirm, welcher der Sage nach in altersgrauen Zeiten aus der Hand eines Knaben, dessen Gestalt der Gott Inari angenommen hatte, dorthin geflogen sein und als Schutzmittel gegen Feuer wirken soll; in dieser Eigenschaft scheint der Wunderschirm sich jedoch, wie die wiederholte Zerstörung der Tempelgebäude durch Feuersbrünste beweist, schlecht bewährt zu haben. Die Gläubigen benützen den Schirm, um mittels desselben einen Blick in die Zukunft zu werfen; wer einen Wunsch im Herzen trägt und sich über dessen Erfüllung unterrichten will, wirft Kügelchen aus Lehm oder gekautem Papiere nach dem Schirme; bleiben diese Wurfgeschosse hieran kleben, so gilt dies als ein gutes Omen, als wohlwollende Äußerung der auf jene eigentümliche Weise befragten Gottheit. Nach den gekauten Anfragen an das Schicksal, welche im Gebälk kleben und den Raum verunreinigen, zu urteilen, scheint die Zahl der Gläubigen; die Wünsche hegen und sehr wissbegierig sind, eine recht große zu sein.
Inari ist der Ernte- und Reisgott, welcher Kitsune, den japanischen Reinecke, zu seinem Diener auserkoren hat. Der Fuchs ist in Anerkennung seiner Schlauheit überhaupt unter die Tempelwächter aufgenommen worden und hat in dieser Funktion, aus verschiedenem Material nachgebildet, an den Eingängen der Tempel seinen Platz erhalten. Neben dem Fuchs genießen auch der Kranich und die Süßwasserschildkröte besondere Verehrung, und zwar beide als Symbole des Glückes, letztere insbesondere auch als Sinnbild langen Lebens und eines friedlichen Greisenalters, einer der sieben Glückseligkeiten. Daher rührt denn auch die Vorliebe für die Darstellung dieser Tiere in Bronze, in Porzellan oder in Lackmalerei und für die Verwendung derartiger Objekte zu Geschenken, durch welche ausgedrückt werden soll, dass dem Bedachten langes, glückliches Leben gewünscht wird.

Auf einer kleinen Erhöhung zwischen Bäumen steht der im Jahre 1618 vollendete Turm, in welchem eine Riesenglocke von über 3 m Höhe, fast ebenso großem Durchmesser an der Basis und entsprechender Wandstärke hängt; diese Glocke wurde im Jahre 1633 gegossen, und dem Material soll, um die Reinheit des Klanges zu erhöhen, viel Gold zugesetzt worden sein; ein an der Außenseite des Turmes befestigter Baumstamm dient als widderartiger Klöppel.

In Dschinrickschas fuhren wir durch mehrere reinliche und den Eindruck besonderer Niedlichkeit hervorbringende Straßen nach dem Tempel Gion-jaschiro, welcher unweit des eben besichtigten liegt und dem Schinto-Kultus geweiht ist, wie sofort an den uns schon von Mijaschima her geläufigen Toren zu erkennen war. Im allgemeinen ist es für den Fremden leichter, sich in einen Buddha-, als in einen Schinto-Tempel Hingang zu verschaffen; doch gab es für uns heute auch hier keine Schwierigkeiten. Im Vorhofe des Tempels sind zahlreiche Votivtafeln, mit langen Sprüchen bedeckt, und Lampen angebracht; im Innenraume fanden wir als Symbole den Spiegel und das Gohei, bewacht von zwei fratzenhaften Figuren, einem Einhorn und einem Tiger. Vor dem Altar standen auf sauberen Tischchen Speise- und Trankopfer, vornehmlich Reis, Fische und Sake, welche von den Gläubigen in großen Mengen herbeigeschafft und von den Priestern als willkommene Gaben in Empfang genommen werden.
Eine starke Anforderung an unsere Rickschaläufer stellte der Weg, welcher steil bergauf durch eine Reihe von Gässchen, in deren Läden Porzellanwaren und namentlich Puppen jeder Art feilgeboten wurden, nach dem buddhistischen Tempel Kijomitsu führt. Dieser ist der in Japan besonderer Beliebtheit sich erfreuenden Göttin der Gnade. Kwan-on, geweiht, welche, die Gebete der Menschheit erhörend, aus allen Notlagen zu erretten vermag und in offenbarer Symbolisierung dieser Allmacht mit mehreren Gesichtern, mit 40 Armen und 1000 Händen dargestellt wird. Die Geschichte der Gründung dieses Heiligtumes ist eine sagenhafte und verliert sich in altersgraue Zeiten; jedenfalls dürfte der Tempel zu den ältesten Baulichkeiten Kiotos gehören. Auch hier führt eine Reihe steil angelegter Stufen empor, an deren Ende ein zwei Stockwerke hoher Torweg erbaut ist. Etwas höher liegt eine in drei Etagen aufstrebende Pagode, welche durch reich geschnitzte Ornamentik ausgezeichnet ist und eine dominierende Lage einnimmt; in der Nähe befinden sich einige kleinere Kapellen. Durch einen Säulengang aufwärts schreitend, gelangt der Besucher endlich vor den Haupttempel selbst, welcher mit seinen roh bearbeiteten Säulen eine seltsame Wirkung hervorbringt. Der nicht eben sehr bequeme Aufstieg wird wesentlich erleichtert durch die Fülle interessanter Objekte, die uns jeden Augenblick veranlassen, haltzumachen, um zu schauen, zu bewundern; Votivtafeln, Vasen aus Bronze in kolossalen Dimensionen, herrliche Brunnen mit künstlerisch gebildeten Drachenfiguren u. a. m. fesselt die Aufmerksamkeit, hemmt die Schritte. Der Haupttempel enthält in einem Schrein, zu dessen beiden Seiten eine ganze Reihe von Götterfiguren angeordnet ist, das über 1,5 m hohe Bildnis der in sitzender Stellung aufgefassten „Tausend-Hände-Gnadengöttin“, wie Kwan-on auch genannt wird; der Schrein darf jedoch nur nach je 33 Jahren geöffnet und so der Anblick des Gnadenbildes dem Volk gegönnt werden. Den Altarschmuck bildet ein buntes Durcheinander von lebenden Pflanzen, von künstlichen Blumen, von Vasen, Leuchtern, Räuchergefäßen und Opferschalen; die Gläubigen können große Glocken mittels verschlungener, weißroter Seile in Bewegung setzen und so besonders eindringlichen Bitten bei der Gottheit Gehör sichern. Ewige Lichter brennen in dem Tempel, welcher bei Tag und bei Nacht von Hilfe und Gnade erflehenden Andächtigen besucht wird.

An der Stirnseite des Tempels ist eine hölzerne Plattform, Butai, das heißt Tanzbühne, mit zwei Flügeln für das Orchester, errichtet und offenbar zur Vorführung besonderer Schaustellungen an hohen Festtagen bestimmt. Eine offene, an diese Plattform angrenzende Halle zeigt sich von Votivbildern erfüllt, die zum Teil höchst interessante Darstellungen von Ereignissen und Vorfällen enthält, in welchen die Göttin dem Spender des Bildes hilfreich zur Seite gestanden ist; neben der Wiedergabe von Symbolen verschiedener Art und so namentlich des heiligen Tempelpferdes in allen möglichen Posen und Gangarten, sieht man hier menschliche Schicksale in buntem Wechsel, Gewaltiges neben Unbedeutendem, tobende Reiterschlachten und Kämpfe mit Riesen und Ungeheuern neben alltäglichem Ungemach des Lebens verewigt — alles zur Erinnerung, dass die Göttin mit ihren tausend Händen helfend eingegriffen hat.

Der fremdartige Eindruck, den die Gesamtanlage des Tempels und die örtliche Situation auf den Beschauer macht, wird noch dadurch erhöht, dass der Hügel, welcher den Haupttempel trägt, von einem anderen, den ein ebenfalls der Göttin Kwan-on geweihtes Heiligtum schmückt, durch einen Abgrund getrennt ist.

Dieses Bauwerk ragt, auf Piloten ruhend, über den Hügel hinaus und bietet dem auf einer Veranda stehenden Besucher einen prächtigen Blick auf Kioto und dessen malerische Umgebung. Zahllose Votivbilder legen auch hier Zeugnis für die helfende Macht der Göttin ab, deren Holzbüste durch die häufige Berührung mit den hilfsbedürftigen Körperteilen der Gläubigen bereits gänzlich abgewetzt und abgeschabt ist. Unter den Votivbildern verdient die Darstellung eines großen Dampfers erwähnt zu werden, auf dem eben eine Kesselexplosion stattfindet; eine Anzahl von auf dem Schiff befindlichen Menschen wird jedoch durch die in den Wolken thronende Gottheit vor dem sicheren Untergang gerettet.

Von der Plattform der Veranda aus sprangen bis vor einigen Jahren nicht selten Fanatiker, lediglich einen geöffneten Schirm in den Händen haltend, in eine Tiefe von 30 m über den Felsen hinab, um zu erproben, ob ihnen wohl zeitlebens der Schutz des Himmels gesichert sei, was daran erkannt werden sollte, dass die kühnen Springer unverletzt blieben, während gebrochene Glieder als eine recht empfindliche Versagung göttlichen Schutzes galten. Häufig soll der gefährliche Sprung auch zur Erzielung eines Gottesurteiles ausgeführt worden sein; dass Selbstmörder denselben unternahmen, um angesichts des Tempels in das Nirwana einzugehen, liegt nahe. Endlich ließ die neuorganisierte Polizei um die Plattform ein Gitterwerk ziehen, wodurch den verschiedenen Springgelüsten ein Ende bereitet wurde.

Ein anderer kleiner Tempel scheint der Göttin in ihrer Wirksamkeit innerhalb der Kinderstube geweiht zu sein; denn hier finden sich in großer Zahl Votivbilder und sonstige Gegenstände, welche auf den Schutz hinweisen, dessen sich die Jugend seitens der Göttin erfreut, so Gitter, bestimmt, Kinder vor dem Hinabfallen zu bewahren, und kleine aus Ton gebildete Buddha-Figuren, versehen mit roten, um den Hals gebundenen Lätzchen, ähnlich jenen, deren man sich bei Kindern bedient, um Verunreinigung der Kleider beim Essen hintanzuhalten.

Die Reihe der Besichtigungen wurde heute mit jener des Tempels der buddhistischen Schin- oder Ikko-Sekte beschlossen, welche, von Schinran, dem Sprossen eines alten Adelsgeschlechtes, im Jahre 1213 gegründet, im Land über 10.000 Tempel besitzen soll und sich durch einen gewissen Rationalismus in ihrer Lehre sowie durch die Reinheit der Sitten ihrer Anhänger auszeichnet; der Glaube an Buddha, edles Denken und Handeln bilden die hauptsächlichsten Verpflichtungen der Bekenner, während Zölibat, Bußübungen, überhaupt jede Form der Askese, klösterliches Leben u. dgl. m. verworfen sind. Bemerkenswert ist, dass der Stifter der Sekte die Volkssprache in das Rituale eingeführt hat und der Priesterstand wie bei den Schintoisten erblich ist. Die Sekte, welche eine Reform des buddhistischen Glaubens durch Wiederbegründung seiner ursprünglichen Reinheit anstrebt und ihre Angehörigen auch in den europäischen Wissenschaften zu unterrichten bestrebt ist, hat nicht nur in Kioto, sondern auch fast in jeder anderen größeren Stadt zwei Tempel, den Nischi-(West-) und den Higaschi-(Ost-)hongwanschi.

Der erstere, im Jahre 1591 oder 1592 erbaut, ist ausgezeichnet durch die bedeutenden Dimensionen sowie durch den Reichtum der Verzierung und des Schmuckes, welcher offenbar mit der der Sekte eigentümlichen prunkvollen Ausstattung ihres Kultus zusammenhängt. Welch herrliche Stämme haben hier als Säulen und im Dachwerke Verwendung gefunden! Welch üppige und doch edel gehaltene Ornamentik bereitet hier wahrhaften Kunstgenuss! Der Haupteingang weist prachtvolle Schnitzereien, darstellend Blumen und Blätter von Chrysanthemen auf; ähnlicher Zierat schmückt die Friese und reicht bis hoch in das Dachgebälk empor. Einer der berühmtesten Holzschneider des Landes, der sich überdies nur des linken Armes zu bedienen vermochte, soll das starre Holz durch jene Meisterwerke belebt haben. Einem im Tempelhof wurzelnden, gewaltigen Baum wird die Kraft zugeschrieben, den Tempel vor Feuersbrunst zu bewahren. Der Innenraum, und zwar sowohl des Hauptschiffes als mehrerer seitlicher Kapellen, erglänzt bei gedämpftem, von einer Veranda einfallendem Licht in reicher Vergoldung, welche sowohl an den Wänden als an den Säulen allenthalben angebracht ist; zur Rechten und zur Linken liegt je ein kapellenartiger Raum, deren jeder große, fast zwei Jahrhunderte alte Kakemonos birgt, die auf dunkelblauem Grund in goldenen Lettern geschriebene Anrufungen der Gottheit und überdies Porträts von hervorragenden Bekennern der Sekte enthalten.

Der Schrein, welcher die etwa 60 cm hohe, den Stifter der Sekte in sitzender Stellung zeigende Statue umschließt, ist mit vergoldeten und bemalten Blumenornamenten überzogen, während der Altar an der Stirnseite in Felder mit Blumen und Vögeln in durchbrochener Arbeit geteilt ist, die sich vom vergoldeten Hintergrund abheben. Vor dem Bildnisse des Stifters prangt in einer Umrahmung dessen vom jetzt regierenden Mikado niedergeschriebener Name.

In einer schier endlosen Reihe von saalartigen Räumen anderer zu dem Tempel gehöriger Bauwerke, insbesondere in den Staatsgemächern, konnten wir die herrlichen Stickereien und Malereien bewundern, welche die Schiebewände bedecken; hier sind es allerlei Bäume und Sträucher, dort Chrysanthemen, dann wieder Gänse und Pfauen, die in anregendem Wechsel den Künstlern als Vorwürfe lebendiger und naturgetreuer Darstellung gedient haben. Alle diese Meisterwerke, welche geeignet sind, das Verständnis für das Wesen der altjapanischen Kunst in ganz anderer Art zu erschließen als die nach Europa gelangenden Erzeugnisse, sind auf langen, dem Künstler horizontal vorliegenden Papierrollen, die erst nach beendeter Arbeit an den Wänden aufgezogen werden, gemalt, wie es denn überhaupt in Japan aus älterer Zeit nur sehr wenige unmittelbar auf vertikalen Flächen hergestellte Gemälde gibt.

Durch einen labyrinthartig angelegten Garten wurde ich nach der Behausung des Oberpriesters geleitet, der uns in einem Gewand von violetter Farbe empfing, ähnlich jenem, welches bei dem katholischen Episkopat im Gebrauche steht. Dieser geistliche Funktionär ist einer der höchsten kirchlichen Würdenträger Japans, eine Folge des Ansehens, dessen die Sekte sich erfreut, sowie des Umstandes, dass der Nischi-hongwanschi in Kioto als der Haupttempel der Sekte gilt und die Vorsteher desselben die Angelegenheiten der Religionsgenossenschaft im ganzen Land leiten. Im Jahre 1876 hatte der jetzt regierende Mikado dem schon vor mehr als 600 Jahren verstorbenen Begründer der Schin-Lehre den Titel Kenschin-daischi, das ist Großer Meister, verliehen, was als eine hohe Auszeichnung und als Anerkennung der Richtung aufgefasst wurde, in der sich das reformatorische Streben dieser buddhistischen Sekte bewegt. Nachdem uns das würdige Oberhaupt der Schin mit schneeartig gestaltetem Fruchteis sowie mit überaus stark versüßten Leckereien, welche ich nur mit großer Überwindung hinabwürgte, bewirtet hatte, fuhren wir nach unserem Quartier in einer Dschinrickscha-Kolonne zurück, die um so länger geworden war, als sich den in dieselbe eingereihten, uns zugeteilten Dignitären und Polizeiorganen auch eine beträchtliche Anzahl von Reportern angeschlossen hatte, die, nach dem Eifer zu urteilen, mit dem sie ihrem Beruf oblagen, den europäischen Kollegen vollkommen ebenbürtig sind.

Der Nachmittag war Einkäufen gewidmet, wozu in Kioto reichliche Gelegenheit geboten ist. Allerdings sind die größeren und bekannteren Läden in ihren Preisen bereits in unliebsamer Weise auf den Verkehr mit Fremden eingerichtet, so dass ich meist jene Warenlager, welche sich durch die Aufschrift „Curio Shop“ als fortschrittliche ankündigten, mied und meine Schritte kleineren, in Seitengassen liegenden Stätten des Handels zuwandte, wo ich ebenso schöne Objekte, jedoch bedeutend wohlfeiler als in den hervorragenden Läden fand.

Die regelmäßige Anordnung der in unabsehbar langen Linien von Süden nach Norden, in kürzerer Ausdehnung von Osten nach Westen streichenden Straßen erleichtert die Orientierung wesentlich, was umso schätzbarer war, als wir sehr beträchtliche Entfernungen von einem Laden nach dem anderen zurückzulegen hatten. Nebenbei bemerkt, werden in Kioto die Entfernungen innerhalb der Stadt von der durch Taiko-sama erbauten Sanscho-Brücke aus berechnet. Allenthalben fallen die in der Öffentlichkeit herrschende Reinlichkeit sowie der Umstand auf, dass in Kioto für die Bespritzung der Straßen vor den Häusern besser vorgesorgt wird, als dies bei uns zu Hause seitens der immer übelgelaunten Hausmeister geschieht.

Während der Fahrt lernte ich auch eine kleine Fabrik kennen, in welcher in der hierzulande üblichen, sich noch wenig über den handwerksmäßigen Betrieb erhebenden Art und Weise recht hübsche Porzellanwaren erzeugt werden; die leichteren Arbeiten fallen Knaben und Frauen, die schwierigeren Männern zu. Im allgemeinen machte mir die Fabrikation, was den Vorgang und die zur Verwendung gelangenden Hilfsmittel anbelangt, einen primitiven Eindruck.

Gleichwohl ist die zum Teil durch weitgehende Arbeitsteilung erzielte Schnelligkeit in der Erzeugung eine erstaunliche; denn rasch wird die Form auf der Töpferscheibe gedreht, dann einem kurze Zeit währenden Trocknungsprozess unterworfen und hierauf bemalt. Zu letzterem Zweck skizziert ein Vorarbeiter die Umrisse des figuralen und sonstigen Schmuckes auf dem Objekt selbst, worauf dieses von Hand zu Hand geht, um in jeder durch einige Farben und einige Pinselstriche bereichert zu werden, bis das Kunstwerk soweit vollendet ist, dass es schließlich in den Ofen wandern kann.

Der Sitz der Tonwaren- und Porzellanindustrie ist in dem am linken Ufer des Kamo-gawa gelegenen Stadtteil Kijomitsu, den wir schon behufs Besichtigung des gleichnamigen Tempels durchfahren hatten. Hier werden vorzugsweise Waren für den inländischen Bedarf erzeugt und verkauft, doch hat seit einigen Jahren auch schon die Produktion für den fremdländischen Geschmack und für den Export begonnen, welch letzterer seit dem Jahre 1868 bedeutend gestiegen ist. Dass die Porzellanindustrie in Japan nicht autochthon, sondern der bleibende Erfolg jener Expedition ist, die Taikö-sama zur Eroberung Koreas und Chinas ausgerüstet hat, kann als erwiesen angenommen werden. Die Daimios von Satsuma, Hisen, Tschoschiu und mehrere andere brachten damals aus Korea Handwerker mit, welche die Begründer der japanischen Töpferindustrie wurden.

Abends besuchten wir eines der größten Teehäuser, in welchem Tänzerinnen ihre Kunst zeigten; doch konnte ich deren choreographischen Fertigkeiten ebenso wenig Beifall zollen als dem von Instrumentalmusik begleiteten Gesang. Der Reiz der Neuheit, welchen sowohl die Teehäuser als die in denselben üblichen Produktionen der Tänzerinnen und Sängerinnen anfänglich ausüben, vermag das Interesse gewiss in hohem Grad zu erwecken; allein das Entzücken der Europäer über jene Etablissements und über die Kunstleistungen der puppenhaften Schönen kann ich nicht teilen.

Links

  • Ort:  Kyoto, Japan
  • ANNO – am 08.08.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Der Troubadour“ aufführt.

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