Kioto, 12. Aug. 1893

Durch die noch leeren Straßen ging es in westlicher Richtung aus der Stadt, um die Katsura- Fälle oder, besser gesagt, die Stromschnellen des Katsura-Flusses zu erreichen, über welche wir in Booten hinabzufahren gedachten.

Einige Minuten außerhalb der Stadt machten wir halt bei Ginkakudschi, einer Villeggiatur, welche Aschikaga Joschimasa im Jahre 1479, nachdem er die Würde eines Schoguns niedergelegt, erbaut hat, und woselbst jetzt ein Garten, in dem auch der Mikado sich zu ergehen pflegt, wenn er in Kioto weilt, zum Besuch ladet. Dieser Garten ist streng nach den Grundsätzen der japanischen Hortikultur angelegt, so dass man auch hier zwerghaften Bäumen, gestutzten Sträuchern, grotesken Felspartien, gewundenen Wegen, kleinen Teichen und den Garten durchziehenden Wässerchen begegnet.

Während anderwärts alles geschieht, um die Natur in ihrer freien Entfaltung zu unterstützen, und große, weithin mit dem Geäst ausladende Bäume zu erzielen, ist der japanischen Gartenkunst ein Zug ins Kleine, das Streben eigen, die Natur auf einen möglichst geringen Raum zu beschränken, sie in ihrer Entfaltung zu beengen und zu zwingen, absonderliche Formen anzunehmen. So habe ich in Japan Fichten und Kiefern gesehen, welche, wie man mich glaubhaft versicherte, fünfzig, ja selbst achtzig Jahre alt und doch kaum einen halben Meter hoch waren. Unleugbar tritt in der Hortikultur der Japaner deren große Liebe zur Natur hervor; aber es scheint mir, als ob es dieser Liebe an Verständnis für die Größe der Natur fehlte und der Sohn Japans sich nicht zu dieser zu erheben, sondern sie nur zu sich herab zu verkleinern vermöchte. Um die Natur dem Menschen näher zu rücken, wird getrachtet, alles niedlich, klein, zwerghaft zu gestalten und ihr den Stempel der Laune des Gartenkünstlers aufzuprägen; alles, was wir in Japans Gärten sehen, ist „herzig“ — kaum ein anderes Wort ist hiefür so charakteristisch. Ein sonderbar geformter Haufe weißen Sandes in dem Garten des Landhauses, einst dem Schauplatz der ästhetischen Schwärmereien und Gastereien Joschimasas, heißt die „Silberne Sand-Plattform“; das Wasseräderchen, welches die Anlage durchrieselt, führt den Namen „Quelle, in welcher der Mond badet“, ein Stein im Teichlein ist „Stein der Betrachtung“ benannt, u. dgl. m.

In fünfzig Dschinrickschas, deren jeder von drei Läufern gezogen wurde, durchfuhren wir anfänglich eine von Ortschaften bedeckte Ebene, in der allenthalben die jüngst geernteten Teeblätter auf Tüchern zum Trocknen ausgelegt waren. Zahlreiche Lastfuhrwerke, mit schönen, schwarzen Stieren oder mit Hengstponies bespannt, kommen uns entgegen, Staub aufwirbelnd, der uns nicht wenig belästigt. Längs der Straße wimmelt es von kleinen Teehäusern, welche den müden Wanderern Labung spenden und auch den Läufern, deren Ausdauer bei der Hitze und dem Staub doppelt erstaunlich war, ab und zu durch einen Trunk Wasser Erfrischung bieten. Unser Weg, hier eine gut gehaltene Bergstraße, führte uns in den nordwestlich von Kioto gelagerten Höhen durch ein schluchtartiges Tal und in Serpentinen empor; hier genossen wir den Reiz prächtiger Vegetation, da zu beiden Seiten des romantischen Pfades Cryptomerien, Thujen, Pinien, Bambus sowie allerlei andere Baumarten, die steilen Lehnen bedeckend, aufragen. Endlich ist, nach Passierung eines ziemlich langen Tunnels, der Kamm erreicht und wir steigen in das vom Katsura-gawa, der hier Hosu-gawa heißt, durchflossene Tal von Hiroma-dschi hinab, um nach einer Stunde Weges auf recht holperiger Straße Jumamoto und damit die Stromschnellen des Katsura-Flusses zu erreichen.

Drei Boote lagen hier bereit, gar merkwürdige Fahrzeuge, welche, 6 m lang und 2 m breit und aus dünnen, nur durch hölzerne Bolzen zusammengehaltenen Planken gezimmert, nicht eben den Eindruck besonderer Widerstandskraft machten; gaben doch die Planken schon beim Besteigen des Bootes unter jedem Tritt bedenklich nach. Die Bemannung bestand aus vier kräftigen Burschen, deren einer am Steuer saß, während zwei ruderten und der vierte die wichtige Aufgabe hatte, das Fahrzeug mittels einer langen Bambusstange an den Felsen des Ufers und des Flussbettes vorbeizuleiten.

Kaum waren wir in den Booten verteilt, so ging die tolle Fahrt auch schon an, und nach wenigen Augenblicken hatten wir bereits die erste Stromschnelle erreicht, welche wir pfeilschnell hinabschossen. Je nach dem Gefälle glitten die Boote bald ruhig dahin, bald sausten sie durch den Gischt des hochaufschäumenden Wassers mit schwindelerregender Schnelligkeit talab. Der Kurs kann nicht etwa die gerade Richtung einhalten, denn plötzlich, gerade wenn die Boote im raschesten Lauf sind, stellt sich bei einer Wendung ein Granitblock in den Weg, und schon glaubt man das schwache Fahrzeug zerschellt, doch siehe, ein Druck mit dem Steuer, ein leichter Stoß mit der Bambusstange und auf Handbreite schießt das Fahrzeug an der gefährlichen Stelle vorbei. Häufig gerät der Kahn in den tosenden Wellen und Wirbeln in gewaltiges Schwanken, die Bodenplanken heben und senken sich, wie unter dem Einfluss eines Erdbebens, zuweilen fühlt man, wie das Fahrzeug über Steine und Felsen hinweggleitet — aber das elastische Material des Bootes widersteht in gleicher Weise dem Wasser wie den Felsen.

Die Fahrt, welche wir an einzelnen Stellen in einem unserer heimatlichen Wildbäche zu machen vermeinen, ist in höchstem Grad anregend, aber unleugbar auch gefährlich, so dass es wohl nur der Geschicklichkeit und Kraft der Schiffer zuzuschreiben ist, wenn sich fast nie ein Unglück ereignet.

Zur Erhöhung des Reizes trägt die entzückende Szenerie bei, welche wir je nach der größeren oder geringeren Schnelligkeit Muße haben zu bewundern oder aber nur im Flug erhaschen. Hier perlen des Flusses grünliche Wellen sanft talwärts, dort wälzen sie sich rauschend, brausend, zischend und donnernd über und gegen hochaufragende, den Weg verlegende Felsen; jetzt wird das Tal breiter, lieblicher, gleich darauf schließt es sich, und durch romantische Engen fliegen wir dahin; bei jeder Krümmung des Flusses taucht ein anderes Bild vor unserem Blick auf, bald eine steile, grünende Lehne, bald die Hänge bedeckende Wälder, bald zackiges Gestein; ab und zu öffnet sich ein seitliches Tal, aus welchem eine versteckte Mühle hervorlugt; hie und da guckt neugierig ein Teehäuschen aus lichtem Grün zu uns herüber.

Anderthalb Stunden sind so auf das angenehmste verflogen, bis sich das Tal erweitert, der Katsura-Fluss, welcher hier den Namen Oi-gawa führt, einen völlig ruhigen Lauf annimmt und bald darauf unsere Flotille bei Araschi-jama gelandet ist. Hieher pilgern Kiotos Bewohner mit Vorliebe im Frühlinge, wenn die Kirschbäume in voller Blüte stehen, und geben sich den Genüssen hin, welche die landschaftlichen Reize dieses von grünenden Hügeln umsäumten, anmutigen Erdenwinkels in Verbindung mit den Vorzügen einiger Teehäuser zu bieten vermögen. Utile cum dulci! Auch wir gingen hin und thaten desgleichen, denn die wackeren Hofköche hatten in einem dieser Teehäuser ein schmackhaftes Dejeuner vorbereitet.

In einem Hofwagen, welchem die Dschinrickschas, Tempo haltend, folgten, kehrte ich von jenem gelungenen Ausfluge nach Kioto zurück und benützte den Nachmittag, um Kaufläden zu durchwandern und zu plündern.

Abends produzierten sich im Palais Künstler, welche in phantastischer Maske und seltsamem Kostüm, wie von der Tarantel gestochen, einen wilden, verwegenen Tanz ausführten, bis ihnen der Atem ausging und sie sich empfahlen, worauf auch ich mich schleunigst zurückzog und mein Lager aufsuchte.

Links

  • Ort: Kyoto, Japan
  • ANNO – am 12.08.1893 in Östereichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater macht Sommerpause bis zum 15. September, während das k.u.k. Hof-Operntheater die Oper „Freund Fritz“ aufführt.

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