In See nach Singapur, 30. März 1893

Heiße Nacht umfing uns in den Kabinen; die Sonne hatte tags vorher brennend niedergestrahlt und drückende Schwüle lagerte über dem Hugli und den Sümpfen. Trotz mancher Verbesserungen, die in meiner Kabine vorgenommen worden waren, sank die Temperatur nachts nicht unter 30° Celsius und der Schlaf, welcher endlich denn doch die ermüdeten Augen schloss, war nicht erquickend.

Früh morgens lichteten wir die Anker und traten unter Führung eines alten englischen Piloten, dessen Gesichtszüge an die uns geläufige Falstaff-Physiognomie erinnerten, die Fahrt, den Hugli abwärts, an. Das Uferland trug völlig den trübseligen Charakter, welcher den unteren Teilen des Deltas eigen ist, nirgends Grün, überall nur hohe, schwankende, farblose Rohrgewächse von jener Art (Typha elephantina), welche in Bengalen „Hugli“ heißt und auch dem Fluss seinen Namen gegeben hat.

Der Hugli, der bedeutendste Arm des Ganges-Deltas, hat schon bei Diamond Harbour eine Breite von 3889 m, bei der Mündung eine solche von 22.224 m. Trotzdem bietet dieser Flussarm der Schifffahrt infolge der sich fortwährend verändernden Barren und Sandbänke bedeutende Schwierigkeiten, so dass die Schiffe oft mehrere Tage brauchen, um die offene See zu erreichen. Selbst die Strandung von Schiffen im Lauf der Talfahrt ist keine seltene Erscheinung. Obgleich der Kurs, welchen die Schiffe zu nehmen haben, durch Wachtschiffe markiert wird, bedarf es sehr tüchtiger Piloten, um die Fahrzeuge ungefährdet durch das Labyrinth von Hindernissen hindurchzuführen.

Um 3 Uhr nachmittags wird der Lotse auf eine kleine Segelbrigg überschifft; die Ufer sind nur mehr in nebelhafter Ferne, in kaum wahrnehmbaren Umrissen erkenntlich; ein letzter Blick fliegt noch dem indischen Festland zu — und wir schwimmen in offener See neuen, fernen Reisezielen entgegen.

Indien ist in den Ozean versunken, — Indien, von dem sagenund märchenumwobene Kunde schon in altersgrauen Zeiten nach dem fernen Westen gedrungen ist, — das aus dem Dunkel der mythenbildenden Zeit allmählich immer mehr in den Vordergrund geschichtlicher Ereignisse hervorgetreten ist, um heute eine der Grundlagen für Englands Machtstellung zu bilden und so als ein die Schicksale Europas beeinflussender Faktor zu erscheinen, — das Eroberer und Entdecker angelockt, Gelehrte, Kaufleute und Touristen angezogen hat und anzieht, — das Dichter, Künstler und Schriftsteller begeistert hat. Als Wiege einer vieltausendjährigen autochthonen Kultur, welche in entzückenden Meisterwerken der Kunst blendende Lichtbilder, in düsteren, scheußlichen Gebräuchen Nachtseiten des Menschentums aufweist, — als der großartige Schauplatz einer stürmisch bewegten, nur zu oft auch grausamen Geschichte, in deren Verlaufe Millionen von Menschen auf dem Schlachtfeld fielen und Ströme von Blut flossen, mächtige Reiche entstanden und blühten, um zugrunde zu gehen, — als Gebiet von schier unerschöpflichem Reichtum an Gütern aller Art, wirkt Indien mächtig ein auf unser Denken und Träumen.

Es ist eine zauberhafte Fernwirkung, welche von diesem Land ausgeht, und der auch ich unterlegen bin, als ich den Plan gefasst, ostindienwärts zu steuern. Dritthalb Monate habe ich Indien durchreist — eine kurze Frist, und dennoch vermochte ich innerhalb derselben eine Fülle von Eindrücken der mannigfachsten Art in mich aufzunehmen, welche ich als dauernden Gewinn, als bleibende Bereicherung verzeichne. Die umsichtige Fürsorge, welche die Regierung Ihrer Majestät der Kaiserin von Indien meiner Reise zugewandt, die großartige Gastfreundschaft, deren ich mich auf indischem Boden zu erfreuen hatte, haben der Kürze des Aufenthaltes ungeachtet, den vollsten Erfolg der Reise gesichert. Ich habe einen großen Teil dieses Juwels der britischen Krone kennen gelernt, Einblick in das Wesen, Leben und Treiben der Bevölkerung gewonnen und häufige Gelegenheit gefunden. mir ein Urteil über die kulturellen Verhältnisse und Zustände des Landes zu bilden, sowie dessen politische Lage und vielfach verzweigte Administration zu würdigen.

Wie in einem Wandeldiorama Bild um Bild an dem Beschauer vorüberzieht, so tauchen alle Eindrücke, die ich empfangen, alle Vorstellungen, die jene wachgerufen, vor mir auf. Von der Entfernungen verschlingenden Lokomotive gezogen, durcheile ich die weite indische Ebene, klimme ich dort, wo früher wohl nur Saumtiere und Träger unter Lasten seufzend aufwärts geklettert sind, steile Bergesabhänge empor; ich wandle umher in den glänzenden, gewühlerfüllten Straßen Bombays und Calcuttas, mächtiger Emporien des Handels, die in ihrer heutigen Gestaltung einem alten Stamm aufgepfropften, üppige Früchte tragenden Reisern gleichen; all die anderen Städte, die ich besucht, durchwandere ich unter den kriegerischen und den künstlerischen Bauten, den zum Teile schon ruinenhaften Zeugen einer ruhmvollen Vergangenheit; in kostbarem Juwelenschmuck strahlend, erscheinen, geführt vom Nisam von Haidarabad, die Maharadschas und Radschas, an deren Höfen ich geweilt und deren Paläste ich besucht: ferne im Hintergrund tauchen die großen, historischen Gestalten der Moguln auf, welche der Geschichte Indiens bleibende, mit Staunen und Scheu erfüllende Spuren aufgeprägt, der Nachwelt künstlerische Schätze in wunderbaren Bauwerken überliefert haben; diesen Gewaltmenschen sehe ich ihre Heere, in bunter, farbenprächtiger Gewandung und mit phantastischen Waffen bewehrt, zum blutigen Streite folgen; unter klingendem Spiele marschieren vor mir zur Parade englische und eingeborene Truppen, moderner Nüchternheit entsprechend uniformiert und mit Hinterladern ausgerüstet; festliche Empfänge und Aufzüge, in welchen mit ungeschwächter Kraft die Vorliebe des Orients für Farbenwirkung und prächtige Schaustellung pulsiert, entwickeln sich, umrahmt von malerischer Staffage und fremdartiger Szenerie, rings um mich her: im Kreis der liebgewordenen Gefährten ziehe ich in dem von aller Kultur noch so ferne liegenden Nepal aus zur Jagd; Hochzeits- und Leichenzüge wandeln an mir vorbei; der Rauch verbrannter Hindus steigt zum Himmel empor, während die Fluten des heiligen Ganges eine feierliche Klage über menschlichen Irrwahn rauschen, der Jahrtausende überdauert; in düsteren Tempeln sehe ich Menschen als Opfer fallen und es dünkt mich, als hörte ich den letzten, entsetzlichen Schrei eines armen, dem Flammentod geweihten Weibes …

So fließt, indem ich der in Indien verbrachten Zeit nachsinne. Wahrheit und Dichtung, Gegenwart und Vergangenheit fast unterscheidungslos ineinander.

Indien wird oft genug ein Land der Wunder genannt, ich möchte es vielmehr ein Land der Rätsel heißen und die Berechtigung hiefür in den Gegensätzen erblicken, die allenthalben in reicher Fülle ohne Vermittlung nebeneinander liegen und, soferne sie sich der befriedigenden Erklärung nicht gänzlich entziehen, derselben doch Schwierigkeiten bereiten und jedenfalls von überraschender, befremdender Wirkung sind. Auf den Ankömmling stürmen anfänglich so massenhafte Eindrücke geradezu sinnverwirrend ein, dass er sich versucht fühlt, sich derselben zu erwehren, bis er lernt, sie zu beherrschen und richtig zu beurteilen. Der oberflächliche Beobachter läuft Gefahr, sich durch eine gewisse Gleichförmigkeit der Erscheinungen auf den verschiedensten Gebieten täuschen zu lassen — und doch welch unerschöpflicher Reichtum an Mannigfaltigkeit tritt jenem entgegen, der zu schauen, zu erfassen versteht!

Das Land selbst trägt den Stempel einerseits monotoner und andererseits doch überaus wirksam kontrastierender Gestaltung an sich. Weithin, schier endlos dehnen sich Ebenen aus, um ihre Grenzen am Fuß der mächtigsten Bergriesen dieser Erde zu finden. Wo Hügelland die Flucht der Ebenen unterbricht, ragen meist kahle, steinige, von niedrigem Dornengebüsche bedeckte Hänge auf, doch findet sich auch hügeliges Gelände, welches dem Blicke anmuthige, selbst wirklich schöne Bilder darbietet. Heiß, trocken, dürr, den Charakter der Wüste an sich tragend, liegt hier die Landschaft vor uns, dort ist sie von unzähligen Wasseradern, Flüssen und mächtigen Strömen durchzogen, in deren Gebieten sich üppig grünende Vegetation entfaltet und Kulturgewächse aller Arten gedeihen. An Gegenden, die nach dem Charakter der Flora die Kraft des tropischen Klimas nicht ahnen lassen, schließen sich Gefilde an, welche im üppigsten tropischen Schmucke prangen; auf ganze Landstriche, die des landschaftlichen Reizes völlig entbehren, folgen solche, welche dem verwöhntesten Naturfreunde Bewunderung und Entzücken abringen. In letzterer Hinsicht bezeichne ich als Perle Indiens, soweit ich in der Lage war, mir selbst ein Urteil zu bilden, das Himalaya-Gebiet, wohin derjenige seine Schritte lenken möge, der im Naturgenuss zu schwelgen gedenkt und der in anderen Teilen des von mir durchreisten Indiens geringe und seltene Befriedigung finden wird.

Weite Strecken Landes scheinen öde und unbewohnt, jeder menschlichen Niederlassung bar, dann drängen sich Ortschaften und Städte auf eng begrenztem Raum. In der Unzahl von Städten, welche in den von unserer Reiseroute durchzogenen Landstrichen gesäet sind, — wir haben dieser Ansiedlungen eine stattliche Anzahl gesehen und dürfen hievon auf andere schließen — ist wohl auch nicht eine, welche nicht der anderen gliche, aber auch keine, welche nicht durch ein ganz eigenartiges Gepräge von allen anderen scharf abstäche.

In so manchen Gebieten Indiens glaubt man tagelang wandern zu können, ohne auch nur einem Menschen zu begegnen, während an vielen anderen Stellen die Dichtigkeit der Bevölkerung einen geradezu unglaublichen Grad erreicht hat. Nicht weniger schwer ist die zahllose Menge von Bevölkerungselementen begreiflich, welche Indien in dem denkbarsten Kunterbunt des Nebeneinander birgt, und die, in so mancher Beziehung ausgeglichen und nivelliert, doch in vielfacher Hinsicht in scharfem Kontrast zueinander stehen. Am auffallendsten war mir der Gegensatz zwischen den eher weich, weniger tatkräftig, unentschlossen erscheinenden anderen Hindus und den Radschputen. sowie den Ghurkas, die — groß, kräftig und schön gebaut — in ihrem ganzen Wesen kriegerische Vergangenheit, soldatischen Sinn und Energie bezeugen.

In verblüffender Untermengung finden sich zahllose Religionen und sektenartige Abzweigungen derselben, so das Christentum mit seinen verschiedenen Bekenntnissen, der Brahmanismus, der Buddhismus, der Islam und viele andere Lehren. Hart neben den zartesten Blüten, welche religiöses Leben getrieben, erhält sich roher Fetischismus, gedeihen wahrhafte Ausgeburten religiöser Verirrungen, wie die auf offener Straße ihr Unwesen treibenden Fakire, die ekelerregenden, obszönen Riten und Gebräuche, welche wir in Tempeln geschaut, der helle Wahnwitz, dem wir in Benares begegnet sind. Großartige Werke und Unternehmungen, welche von tief religiösem Sinne, von wahrer Menschenliebe zeugen, lassen alle edlen Saiten in uns erklingen, während uns ein brutaler Mangel an jeglicher Pietät dort, wo Tote verbrannt und halbverkohlt ins Wasser geworfen werden, schaudern macht und uns unbezwinglicher Widerwille befällt, wenn wir die Räume betreten, in welchen bresthafte und sieche Tiere das Ende ihres Daseins abwarten. Das Erhabene und das Gemeine, das Schone und das Hässliche, das Ernste und das Lächerliche stoßen in Indiens weiten Gauen überall hart aneinander.

Millionen der Bevölkerung Indiens verbringen ihr Leben in einer Armut und Dürftigkeit, welche jeder Menschenwürde Hohn sprechen, welche das Maß des von uns für möglich Gehaltenen weit übertreffen. In jämmerlichen Laubhütten kommen, vegetieren und vergehen Generationen von Menschen, deren Elend umso krasser erscheint, als es sich von den Überresten ehemaliger Pracht und Herrlichkeit, von dem glänzenden, üppigen Reichtum abhebt, der an den Höfen und Sitzen der Maharadschas und Radschas herrscht.

Großbritannien hat im Lauf der Zeiten durch beharrliche Arbeit die Rinnsale gegraben und die Schleusen aufgezogen, aus welchen sich die Zivilisation des Westens über Indien ergießt; aber diese ist noch wie Öl, das auf dem Wasser schwimmt, nicht in die Tiefe desselben dringt, sich mit diesem nicht mischt. Die große Masse des Volkes in Indien lebt noch ganz auf der Stufe der Kultur, welche es vor Jahrhunderten erklommen und mit zäher Ausdauer festgehalten hat. Noch heute werden in den Werkstätten der Kunstindustrie jene Erzeugnisse, die auf den Märkten Europas wohlbekannt sind und die Bewunderung der Sachverständigen erwecken, in der primitiven Weise erzeugt, welche den Altvordern vertraut war, und mit dem einfachen, durch eine eiserne Spitze bewehrten Gabelholz, wie es schon in altersgrauen Zeiten als Pflug im Gebrauche gewesen sein mag, wird auch heute noch der Boden durchfurcht, damit indischer Weizen auf dem Weltmarkt dem europäischen, mühsam genug mit dem Dampfpflug erarbeiteten Producte Konkurrenz bereite.

Unter all den rätselhaften Erscheinungen in Indien macht wohl keine größeren Eindruck als jene, dass England im Stande ist, die nahezu 300 Millionen zählende Bevölkerung in Botmäßigkeit zu erhalten — und eine Botmäßigkeit ist es, in der ganz Indien England gegenüber erscheint, mögen Indiens einzelne Teile sich einer größeren oder geringeren relativen Selbständigkeit erfreuen oder auch nur in den britischen Interessenkreis einbezogen sein. Diese Erscheinung ist umso frappanter, als ja in Indien Englands Machtgebot nur durch eine geringe Zahl seiner Söhne, durch verschwindende Streitkräfte zum Ausdruck gebracht wird. Welches Schicksal immer dem heutigen Britisch-Indien beschieden sein mag, so gereicht doch die Tatsache, dass England seine Herrschaft daselbst zu begründen, zu behaupten und auszugestalten vermocht hat, nicht allein dem englischen Nationalcharakter zum Ruhm, sondern liefert auch ein Zeugnis für die Überlegenheit der westlichen Kultur.

Wenn mir manch interessanter Einblick in die Verhältnisse und die Administration Indiens und in das verschlungene Gewirre von Fäden gegönnt war, welche in Alt-Englands ordnender, verteilender Hand zusammenlaufen, so danke ich dies nicht zum geringsten Teil der Offenheit, mit welcher die Engländer über indische Einrichtungen und Angelegenheiten Fremden gegenüber sprechen, dem Freimut, womit sie selbst Mängel i rückhaltlos darlegen. Ungeachtet solcher Mängel haben die Engländer in Indien wahrhaft großartige Leistungen aufzuweisen — Staatskunst und Kolonialpolitik haben Triumphe gefeiert. Waffen, Geld und diplomatische Künste, welch letztere in der Eifersucht und Zwietracht der einheimischen Fürsten willkommene Objekte fanden, mussten zusammenwirken. Und wenn ab und zu in dem bald friedlichen Ringen Englands mit widerstrebenden Kräften aller Art jene Feinheit der Empfindung vermisst werden sollte, welche allein ermöglicht, immer sehr streng in der Wahl der Mittel zu sein, wer vermöchte dies zu tadeln?

Indien ist unstreitig eine Zierde der britischen Krone und deshalb muss England um diesen Besitz auch wie um eine Kostbarkeit besorgt sein. Indem es sich Indiens freut, muss England zittern und vorbauen. Mag sein, dass erfahrene Kontinental- und Kolonialpolitiker in dem Gedanken einer Imperial Confederation, eines engeren Zusammenschlusses der britischen Kolonien untereinander und mit dem Mutterlande ein nicht zu verwirklichendes Traumgebilde sehen – ich erlaube mir dafürzuhalten, dass hierin nur die Einrenkung der über den Erdball verstreuten Glieder eines Ganzen zu einem Organismus erblickt werden könnte, welcher es England möglich machen würde, seine Machtstellung nachdrücklicher zu behaupten, als es bei dem jetzigen Zustand einer doch nur sehr losen Aggregation der Bestandteile der Fall ist.

Links

  • Ort: In See nach Singapur
  • ANNO – am 30.03.1893 in Österreichs Presse.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater ist bis zum 2. April, das k.u.k. Hof-Operntheater bis zum 1. April geschlossen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Solve : *
5 + 18 =


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.