Der Wunsch, den Anblick der herrlichen Berge heute morgens abermals zu genießen, war der Vater des Gedankens gewesen, dass die Nebel heute verschwunden sein müssten. Mitnichten! Sie waren noch immer da, obgleich in der Nacht Sterne sichtbar geworden waren und wir leider den letzten Morgen in Dardschiling zu verbringen hatten.
Da übrigens der Nebel nicht gar zu dicht war und an einzelnen Stellen sogar der blaue Himmel hervorlugte, beschlossen wir, auf den 2870 m hohen und etwa 10 km von hier entfernt liegenden Mount Sentschal oder Tiger Hill zu reiten. Von ihm aus soll man an klaren Tagen die schönste Aussicht auf den Himalaya, insbesondere den Mount Everest genießen. Es war empfindlich kalt und trotz warmer Kleider und Mäntel froren wir wie an einem europäischen Wintertage, aber gerade die niedrige Temperatur ließ uns hoffen, dass der Ritt nicht vergeblich sein und uns der ersehnte Ausblick auf die stolzen Bergeshäupter vergönnt sein werde.
Der Weg führt gleich vom Hotel aus in Serpentinen steil hinan bis zu einem englischen Sanatorium für fieberkranke Soldaten, die in mehreren kleinen Häusern untergebracht sind und hier von ihren Leiden Genesung suchen. Auch eine kleine englische Besatzung, wohl die höchstpostierte in der Welt, befindet sich hier.
Auf einem Bergvorsprung, der im wallenden Nebel einer Klippe in bewegter See glich, ragte phantastisch ein tibetanischer Buddha-Tempel empor, der in seiner Bauart lebhaft an chinesische Pagoden erinnert — ein architektonisches Zeugnis der Verbindung von Kunstformen verschiedener Völker an deren örtlichem Berührungspunkte.
Bis hieher hatten wir noch immer auf besseres Wetter gerechnet, da sich sogar die Sonne auf manche Augenblicke hatte sehen lassen. Doch vergebens! Der Nebel wurde immer dichter, man sah kaum mehr den Vordermann, und so mussten wir uns, das Fruchtlose unserer Bemühungen einsehend, in resignierter Stimmung endlich zur Rückkehr entschließen.
Der Kälte wegen saßen wir von unseren Ponies ab und liefen den Berg hinab bis zum Hotel. Dann statteten wir noch einen letzten Besuch im Bazar ab, wo Geldwechsler auf dem Boden hockten, Münzen aus Nepal, Sikkim und Bhutan feilhaltend, unter welchen wir Rupien, Peis (1 Rupie = 16 Annas à 12 Peis) und Kauris (Cowries, 6400 Kauris = 1 Rupie) fanden. Die seit uralten Zeiten im Orient und besonders in Afrika als Münze geltende Kauri ist bekanntlich die Porzellanschnecke (Cypraea moneta). Rasierer walteten auf offener Straße oder in den Kaufläden behende ihres Amtes.
Besondere Erwähnung verdient ein eigentümlicher, fast bei allen tibetanischen Händlern vorhandener Artikel: Gebeträder aus Kupfer oder Silber. Diese bestehen aus einem Metallrohr, durch welches ein Eisenstab geht, an dessen oberem Ende eine drehbare zylindrische Büchse befestigt ist. Im Innern der Büchse ist ein langer, zusammengerollter, mit Gebetsprüchen bedruckter oder beschriebener Papierstreifen enthalten, welcher mittels einer in der Büchse befestigten Spule in Drehung versetzt wird. Schon das Drehen der Gebete wird dem andächtigen Hersagen derselben gleichgehalten und gilt bei den Buddhisten als Betätigung der Frömmigkeit; übrigens murmeln die allerfrömmsten Beter, während sie die Spule des Zylinders drehen, obendrein noch den Gebetspruch. Eine noch drastischere und bequemere Form des Gebetes besteht in dem hier üblichen Hissen langer über und über mit Gebeten beschriebener Tücher, welche auf hohen Bambusstangen in der Nähe der Tempel und der Häuser im Wind zu flattern bestimmt sind und auf diese Weise böse Geister von den Gebäuden verscheuchen und fernhalten sollen.
Wir hatten das Verkehrsleben Dardschilings gewiss bedeutend angeregt und jedenfalls die Hoffnung erweckt, dass es möglich sein werde, noch im letzten Augenblick irgend welche für die Verkäufer besonders vorteilhafte Geschäfte mit uns abzuschließen; denn als wir uns, zur Abreise gerüstet, bereits unter den Toren des Hotels befanden, überfielen uns daselbst unzählige Händler mit Stoffen, Waffen, Hunden, Fasanen, Fellen, Musikinstrumenten der mannigfaltigsten Art und allen möglichen Geräten religiöser und profaner Bestimmung. Zwischen den Handelsbeflissenen drängten sich Bettelmönche und Lamas aus Tibet und aus der Mongolei, um Almosen für ihre Tempel flehend.
»Lama« ist der Ehrentitel der Priester des Lamaismus, das ist des von Tsongkhapa im 14. Jahrhundert umgestalteten, bei den Tibetanern, Mongolen und Kalmücken verbreiteten Buddhismus. Die obersten Priester dieser Hierarchie sind der Bogdo Lama in Taschi-Lhunpo und der weit öfter genannte Dalai Lama, Ozeanpriester, — das ist der menschgewordene, immer wieder neugeborene Buddha — in dem seit vielen Jahrzehnten den Europäern verschlossenen und wohl voraussichtlich auch noch durch längere Zeit unzugänglichen Lhassa.
Endlich mussten wir dem geschäftigen Treiben rings um uns her, da die Zeit drängte, ein Ende bereiten und kämpften uns durch die festgekeilte Menschenmenge förmlich hindurch, um zu der Station zu gelangen.
War uns das Wetter während des kurzen Aufenthaltes nicht eben hold gewesen, so verließ ich Dardschiling doch lebhaft angeregt und seelisch erquickt. Ich war von der Empfindung erfüllt, inmitten der herrlichen Gebirge geistige Sammlung gefunden, sowie wohltuende Ruhe genossen zu haben und so der Menge auf Indiens Boden noch bevorstehender Eindrücke neu gestärkte Empfänglichkeit entgegenbringen zu können. Hatte ich ja das Juwel der Berge, den Kantschindschinga, wenn auch nur auf Momente, geschaut; die Alpenwelt der Tropen in ihrem hinreißenden Zauber genossen; einen Blick in das Zusammenfluten von Völkerstämmen mancherlei Rassen mit den hieraus entsprungenen eigentümlichen Mischungsformen auf allen Gebieten ihres Lebens getan und — last not least — nach der fieber- und bakterienschwangeren Atmosphäre von Calcutta, nach dem unleidlichen, wie es scheint ganz Indien überwölkenden Geruch von Kokosnussöl, Rosenwasser, Sandelholz und verbrannten Hindus wieder mein Element, herzerfrischende reine Alpenluft, geatmet.
Viele der alljährlich sich in großer Zahl einstellenden Besucher Dardschilings bekommen trotz eines Aufenthaltes von zwei oder drei Wochen, trotz der Besteigung so mancher Höhe den Kantschindschinga überhaupt nicht zu Gesicht, ja oft grollt der Bergriese monatelang, sein ehrwürdiges, greises Haupt jeglichem Blick entziehend. Ich darf also nicht klagen. Indem ich Dardschiling Lebewohl sagte, fühlte ich in meinem Innern den Vorsatz keimen, dereinst — wenn des Schicksals Mächte es gnädigst gestatten — wiederzukehren, um dieses Edens Reize in vollen Zügen, nach Herzenslust zu genießen.
Um 1 Uhr verließen wir Dardschiling. Zur Talfahrt benützten wir anfangs den Zug, hatten jedoch bald den guten Einfall, den Eisenbahn-Direktor zu bitten, uns die Fortsetzung der Fahrt auf einer Draisine zu gestatten, da wir uns so eines freieren, besseren Rundblickes erfreuen würden. Nach einigem Sträuben gegen dieses angeblich zu gefährliche Beginnen wurde die Bitte gewährt und bald sausten wir mit Eilzugsgeschwindigkeit auf einer zwölfsitzigen Draisine über Kurven und Serpentinen den Berg hinab. Je tiefer wir kamen, desto mehr zerteilten sich die Wolken, verschwand der Nebel und endlich umfing uns heiteres Wetter. Welches Entzücken beseelte uns auf der kühnen Fahrt! Nichts behinderte die Rundsicht auf das Meer von grünen Bergen, Kuppen, Rücken, Tälern und Schluchten, über das hinweg wir in den Lüften zu ziehen schienen, als schwämmen wir im Äther, umflossen von dem goldigen Hauch der sinkenden Sonne, zum Abschied gegrüßt von deren letzten, herrlichsten Strahlen.
Als es zu dunkeln begann, wollte der um unsere geraden Glieder besorgte Direktor unter keiner Bedingung die Weiterfahrt gestatten; so mussten wir denn den nachkommenden Zug abwarten, der uns nach Siliguri brachte. Bei Nacht ist der Verkehr der Züge auf der Bergbahn in der Regel eingestellt, weshalb auch für Beleuchtung der Strecke nicht weiter gesorgt ist. Für unsere Fahrt jedoch ward auf der Lokomotive ein weithin leuchtendes, helles Licht befestigt, in dessen Schein die Bäume des Urwaldes, die Lianen, die Bambus wie Gespenster an uns vorüberflogen.
Endlich trafen wir in Siliguri ein, um die Fahrt von hier aus mit der Eastern Bengal Railway auf der schmalspurigen Strecke bis nach Manihari Ghat fortzusetzen.
Links
- Ort: Manihari, Indien
- ANNO – am 08.02.1893 in Österreichs Presse. Die Regierungpläne sind immer noch Thema der Diskussion. In Frankreich geht die Krise weiter, doch denken einige bereits an Neuwahlen angesichts der etwas abgekühlten Stimmung.
- Das k.u.k. Hof-Burgtheater spielt Shakespeares “Ein Wintermärchen”, während das k.u.k. Hof-Opermtheater wieder einmal “Die Rantzau” aufführt.