Darjeeling, 7. Februar 1893

Der erste Blick bei Morgengrauen galt den Bergen oder eigentlich der Richtung, in welcher die Berge gesehen werden sollten; aber leider sahen wir wieder nur Nebel, nichts als Nebel. Tief herabgestimmt widmete ich mehrere Stunden meinem Tagebuch, während die Herren meiner Suite in den Bazar gingen, um für mich Einkäufe zu besorgen. Unter anderem brachten sie von ihrem Beutezug auch einen zottigen echten Tibetaner Gebirgshund mit, den ich sofort in die Heimat sandte: ein reizendes Tier, lang behaart, schwarz, braun gebrannt, in der Größe eines Schäferhundes, mit klugen Augen und — einem besonderen Kennzeichen der Rasse — schwarzem Maul.

Bälge verschiedenartigen Getieres, besonders jene des schönen Katzenbären (Ailurus fulgens), welche ich in dem Bazar gesehen hatte, veranlassten mich, in den Commissioner zu dringen, eine Jagd zu veranstalten. Er erklärte, dass zwar alle guten Plätze sehr entlegen seien, wir aber immerhin einen in der Nähe befindlichen Wald durchstreifen könnten, um dort unser Glück auf Vögel zu versuchen. Wiewohl dies wenig zuversichtlich klang, machten wir uns dennoch auf den Weg und ritten in dichtestem Nebel einen schmalen Gebirgspfad entlang, ungefähr 350 m bergab, bis wir an einen steilen Bergabhang gelangten, der mit äußerst üppiger Vegetation bedeckt war. Wir verließen die Pferde und drangen in mehrere Partien aufgelöst in das urwaldähnliche Gewirre ein. Wie bedauerte ich, nicht meine genagelten Goiserner Schuhe mitgenommen zu haben; zwischen den Bäumen. Farnen und Lianen gab es so steile und glatte Lehnen, dass ich jeden Augenblick mit der Mutter Erde in Berührung kam. Durch solches Missgeschick ließ ich mir jedoch den Genuss nicht verkümmern, in ungewohntem, unbekanntem, auf Schritt und Tritt Neues bietendem Terrain umherzustreifen. Vor allem waren es die riesigen, manchmal undurchdringlichen Farne, welche das Auge fesselten; auch unsere ornithologische Ausbeute gestaltete sich ergiebig, so dass sie darauf schließen ließ, wie reich die Ornis in diesem Himmelsstrich zu anderer Jahreszeit sein müsse.

Gegen Abend ins Hotel zurückgekehrt, stand ich eben im Speisezimmer in Unterhandlung wegen Ankaufes interessanter Gegenstände aus Inner-Tibet, als Kinsky mit der Meldung hereinstürzte, die Berge seien sichtbar. Mit einem Sprung war ich auf der Terrasse und genoss nun einige Momente lang eine Aussicht, einen Blick auf das Gebirge, der sich mir für das ganze Leben tief eingeprägt hat. Als hätten die Geister jener Berge Mitleid mit dem Erdensohn empfunden, der aus weiter Ferne hiehergepilgert war, um zu den Füßen der unnahbaren Riesen die Natur in ihrer Herrlichkeit zu bewundern — teilt sich plötzlich der dichte Nebel in den Höhen und entschleiert liegen im Glanze der sinkenden Sonne »die fünf weißen Brüder«, der Kantschindschinga, vor uns. In scheuer Ehrfurcht nur wagt das Auge sich zu dem Bild voll Größe, voll Majestät zu erheben, trunken von Entzücken haftet es daran. Eine Wand von Nebel, wie aus den Tälern emporgewachsen, lagert bis hin zu den enthüllten Gipfeln, die auf den Wolken zu thronen scheinen. Ein erstarrtes Kapitel der Geschichte der Erde, blicken die Berge, das Bleibende im Wechsel, in olympischer Ruhe auf das Werden, Blühen und Verderben der Völker — dieser Eintagswesen in den Äonen des Seins — herab. Wenig war mir zu schauen gegönnt; doch das Wenige in einer Pracht, dass ich die ganze Größe jenes hehren Anblickes zu ahnen vermochte, den voll zu genießen mir versagt blieb. Wie ein Gefühl der menschlichen Ohnmacht beschlich es mich angesichts der Natur in ihrer Riesengröße — auch der Nüchternste muss sich in Demut beugen und in Begeisterung erheben vor einem Anblick, wie er mir beschieden gewesen.

Nur ein bitterer Tropfen Wermut in dem Kelche der Freude — dass meine Lieben in der Heimat weilen, in weiter Ferne von mir, dass sie nicht teilhaben können an dem herrlichen Schauspiel, an den tiefen Empfindungen, die es wachruft. Wie wahr ist das schlichte Wort: Geteilte Freude, doppelte Freude! . . .

Die Geister der Berge schien es zu reuen, ein menschlich Rühren empfunden und die jungfräulichen Gebirge, auf denen nie der Tritt eines Menschen widerhallt hat, so lange dem Auge des Sterblichen preisgegeben zu haben — die Nebel steigen, werden dichter und dichter, die rosig angehauchten Gipfel verblassen, ihre Konturen zerrinnen, und endlich ist das zauberhafte Bild verschwunden.

Links

  • Ort: Darjeeling, Indien
  • ANNO – am 07.02.1893 in Österreichs Presse. Der Kaiser besichtigte das Neugebäude der Wiener Allgemeinen Polyklinik im 9. Bezirk in der Mariannengasse. Geführt wurde er vom Arzt und Schriftsteller Arthur Schnitzler.
  • Das k.u.k. Hof-Burgtheater zeigt Shakespeares “Hamlet”, während das k.u.k. Hof-Opermtheater  Meyerbeers Oper “Die Hugenotten” aufführt.

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